Opposition als Möglichkeit der Einflussnahme


In einem Artikel in „Die Zeit“ vom 1.2.2024 unter dem Titel „Lasst sie mal machen“ wird ein Anwalt, dem es wirtschaftlich gut geht, auf seine Gründe, die AfD zu wählen, befragt: „Wenn die AfD groß wird, noch größer, fangen die etablierten Politiker mal an, nachzudenken. Mal wieder rauszugehen vielleicht. Sich ernsthaft die konkreten Probleme der Leute anzuhören. (…) Die AfD sei ein Symptom für Unzufriedenheit, sie sei Kritik an den Parteien, die bislang regiert haben.“ (S. 3) Er würde es begrüßen, wenn die CDU mit der AfD zu koalieren bereit wäre. Dann würde die CDU auch seine Stimme erhalten.

Es scheint also so zu sein, dass die Wahl der AfD zumindest für einen Teil der Wählerschaft kein Liken der AfD darstellt, aber Disliken der etablierten Parteien. Also geht es hier darum, den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen. Sie stellen unser demokratisches System nicht in Frage, nehmen es aber in Kauf, eine antidemokratische Partei zu wählen mit allen Folgen, die das nach sich ziehen könnte – Hauptsache, es passiert etwas anderes als bisher. [*] Für die Unzufriedenheit sollen also die Politiker geradestehen und sie kriegen an der Wahlurne das entsprechende Feedback.

„Wo auch sonst?“, können wir fragen. Wo und wie können wir sonst Einfluss nehmen? Wenn die einzige Einflussnahme das Kreuz auf dem Wahlzettel ist, ist das in der Tat zu wenig. Wir brauchen also andere Beteiligungsformen. Es geht nicht darum, dass die da oben uns das herbeischaffen, sondern es geht um die Frage: „Wie können wir uns das selbst erschaffen?“

Die Wahl als Mittel der Opposition

Das klingt zunächst nach einer unorganisierten außerparlamentarischen Opposition, die sich des demokratischen Mittels der Wahl bedient, um sich zu zeigen, auch wenn das Programm der AfD nicht den eigenen politischen Vorstellungen entspricht. Ich komme aus einer außerparlamentarischen Opposition der 60er Jahre, bin in der Zeit politisch sozialisiert worden. Das Mittel damals war der Protest in der Öffentlichkeit, der natürlich von den etablierten Kräften bekämpft wurde. Was konnten wir damals anderes erwarten? Parlamentarische Kräfte, die unsere Vorstellungen unterstützt haben, gab es damals kaum – schon gar nicht in Form einer politischen Partei. Unsere Opposition hatte den Charakter eines Protests, einer Revolte. Einige wollten damals eine Revolution, aber der größte Teil der APO (außerparlamentarischen Opposition) war nicht fest organisiert, sondern ist an bestimmten Punkten von Unzufriedenheit an die Öffentlichkeit getreten, z.B. wegen Leerstands dringend benötigten Wohnraums aus finanzspekulativen Gründen.

Der Wunsch, gehört zu werden

Gegen das Establishment zu sein, gehörte damals zum guten Ton unter uns Gleichgesinnten. Jetzt scheint in einem großen Teil der Bevölkerung auch um diese Art der Gegnerschaft zu gehen, allerdings sind die außerparlamentarischen Kräfte von damals heute selbst Establishment. Damals haben wir von den Etablierten uns gewünscht, dass sie uns zuhören. Diese Bereitschaft war damals nicht vorhanden. Ist sie das heute? Offenbar nicht, jedenfalls nicht so, dass die Betroffenen, wie die oben Zitierten, sich gehört fühlen.

Wir haben es mit zwei konvergierenden Bewegungen zu tun:

  1. Die sog. Etablierten bleiben unter sich, bestätigen sich gegenseitig, fühlen sich so auf der richtigen Seite und hören den Andersdenkenden nicht zu.
  2. Die sog. Nicht-Etablierten prangern das an, isolieren auf diese Weise die sogenannten Etablierten und verstärken so den Effekt des Nichtgehört-Werdens.

Im Endeffekt hätte das zur Konsequenz, dass die Etablierten sowieso keine Chance mehr haben, zu diesen Nicht-Gehörten Zugang zu erhalten. Insofern laufen wir auf eine gesamtgesellschaftlich fatale Entwicklung zu, in der Diskurse nicht mehr fruchten können und von Teilen der Gesellschaft auch nicht gewollt sind. In so einer Situation eine offene Kommunikation zu fordern, kann nicht erfolgreich sein, denn beide Seiten scheinen für einen wirklichen Dialog nicht offen und bereit und in der Lage zu sein.

Wie konnte es zu so einer Entwicklung kommen?

Ausgangspunkt ist m.E. eine zunehmende Unsicherheit über unsere Zukunft, die sich an verschiedenen Aspekten der Gegenwart festmacht: Zunahme von Flüchtlingsströmen, Kriege an unserer direkten Peripherie, finanzielle Krisen, Umweltkrise, um nur die zentralsten Punkte zu nennen. Wir müssen natürlich alle Angst um unseren bisherigen Wohlstand haben, einfach weil der bedroht ist. Es ist nicht sicher, dass wir uns gesellschaftlich noch das alles leisten können, was bisher möglich war oder zu sein schien.

Wir leben in unsicheren Zeiten!

Das erzeugt Ängste, die sich in vielfältiger Weise manifestieren. [**] Die Ängste sind einerseits nicht so stark, dass wir uns unmittelbar bedroht fühlen, aber in eine unsichere Zukunft gehen. Wir hatten über viele Jahre die Möglichkeit, an eine sichere Zukunft zu glauben. Obwohl Zukunft per se unsicher ist, wir nicht wirklich Steuerungselemente in der Hand haben, die die Zukunft sicher machen können. Die Illusion der Zukunftssicherheit, mit der uns unsere Politiker umgarnt haben, existiert nicht, hat noch nie existiert: Wir haben lediglich Glück gehabt – jedenfalls meine Generation.

Weil die Ängste bei den meisten noch nicht so groß sind, äußert sich das eher in Form eines Unbehagens, einer Unzufriedenheit, die sich z.B. in Form des oben geschilderten Wahlverhaltens äußert. Wir haben ein Unbehagen, weil es so viele Elemente der Unsicherheit gibt. Mehr als all die Jahre zuvor. Und wir stehen mit einer Hilflosigkeit davor und glauben nicht, dass die Konzepte der Etablierten tatsächlich Zukunftsunsicherheit minimieren können. Wenn uns dann noch suggeriert wird, die Zukunftssicherheit gäbe es zum Nulltarif, dann stutzen wir zurecht, dann machen sich die Menschen unglaubwürdig, die das von sich geben. Und diejenigen, die den Preis betonen, den uns das kosten könnte, geraten ebenfalls in Misskredit, weil sie damit die Unsicherheit betonen, die wir alle nicht aushalten wollen.

Ein Fall aus der Praxis

Eine Patientin erzählte neulich, dass sich bei ihrer 16-jährigen Tochter die Folgen der letzten Jahre zeigten: Die Pandemie, die gerade den jungen Menschen so viel abgefordert hat. Die war noch nicht ganz vorbei, da begann auch schon der Krieg in der Ukraine mit neuen Flüchtlingsströmen. Das Ganze hinterlegt von den Zukunftssorgen wegen der klimatischen Veränderungen auf der Erde. Sie sagte, ihre Tochter sei aus dem Krisenmodus nicht herausgekommen. Das wirke sich heute so aus, dass sie, die Tochter, sich orientierungslos zeige und nicht wisse, welche Wege sie beruflich und für die Schule einschlagen solle und ob sich ihr Einsatz noch lohne. Das kann natürlich Teil einer pubertären Anwandlung sein, im Sinne der Vorbeugung neige ich jedoch dazu, das als Signal ernst zu nehmen und ich habe der Mutter geraten, mit der Tochter darüber zu sprechen, auch wenn sie selbst keine Rezepte zur Verfügung stellen kann.

Unzufriedenheit in allen Bevölkerungsschichten

Auch der Zahnarzt aus dem obigen Beispiel at ein Unbehagen und eine Unzufriedenheit. Sozial und finanziell geht es ihm nicht schlecht. Das mag bei Menschen aus weniger gesicherten finanziellen Verhältnissen anders sein. Aber deswegen ist dieses Beispiel auch so interessant: Die Unzufriedenheit durchzieht anscheinend alle Bevölkerungsschichten. Und die Unzufriedenheit ist nicht so groß, dass sie zu einer Revolte führen würde. Das Revoltierende, dann aber Organisierte, entsteht anders als in meiner Jugend am konservativen [***] Rand der Gesellschaft, zieht dort jedenfalls größere Kreise. Und strebt von da aus an die Macht.

Als Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen möchte ich auf die psychischen Bedingungen und Auswirkungen von Unbehagen und Unzufriedenheit eingehen.


[*] In der Ausgabe vom 21.03.24 von „Die Zeit“ ab S. 11 wird eine Wähleranalyse der AfD-Wählerschaft vorgestellt, die eine repräsentatives Momentaufnahme der Wählerschaft der AfD darstellen soll. Danach sortiert sich der größte Teil der Wählerschaft der AfD als zur politischen Mitte gehörig ein. Nur 5% ordnen sich selbst am rechten Rand des Parteienspektrums ein. Aber 75% sind mit der bestehenden Demokratie unzufrieden und lehnen die gegenwärtige Regierung ab bzw. sind Gegner der etablierten Parteien.

[**] An dieser Stelle möchten wir auf das Buch „Veränderung in unsicheren Zeiten“ aufmerksam machen, das Heinz-Günter herausgegeben hat mit allen Artikeln zum online-Kongress 2020. Dieses Buch ist im Eigenverlag bei SynBooks erschienen.

[***] Normalerweise sprechen wir von einer politischen Landkarte zwischen rechts und links, was der Sitzverteilung in der französischen Nationalversammlung von 1789 entspricht. Damals waren die Gegensätze zwischen rechts und links die größt möglichen. Heute haben sich diese Begrifflichkeiten verwischt, so dass beispielsweise die sog. Linke ähnlich wie die Rechte nationalistisch argumentiert im Gegensatz zur Internationalität der Linken aus früheren Jahren. Deswegen erscheinen mir die Bezeichnungen dieser politischen Lager nicht mehr ausreichend aussagekräftig.

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