Wozu brauchen wir andere?


Im letzten Beitrag wurde der Begriff Achtsamkeit ausgedehnt auf menschliche Nähe-Bedürfnisse. Dabei handelt es sich um Bedürfnisse, die wir uns selbst nicht erfüllen können, zu deren Befriedigung wir auf andere angewiesen sind. Im ROMPC haben wir dafür ein Konzept, das der Beziehungsbedürfnisse, die von Erskine formuliert wurden. In den beziehungsorientierten Aspekten von ROMPC finden diese besondere Berücksichtigung. Was bedeuten diese in der gegenwärtigen Belastungssituation durch die Corona-Krise?

Das Bedürfnis nach Sicherheit

Gerade in der jetzigen Situation erfahren wir, dass wir uns selbst Sicherheit nur eingeschränkt geben können. Im Gegenteil wir erleben eine große Verunsicherung. Wir suchen nach Sicherheit bei Experten, bei Regierungen, bei Ärzten. Eine verlässliche äußere Sicherheit gibt es dennoch nicht. Emotionale Sicherheit können wir aber in erster Linie durch einen tragenden Kontakt zu vertrauten Menschen erfahren. Der kann uns durch keine noch so klare äußere Sicherheit gegeben werden. Ein solcher Kontakt kann durch keine noch so klare äußere Sicherheit ersetzt werden. Auch die ist natürlich in der gegenwärtigen Situation wichtig – allein, wir können sie derzeit kaum bekommen: man denke nur an die vielen widersprüchlichen Richtlinien und Nachrichten. Die emotionale Sicherheit können wir dadurch bekommen, dass uns ein anderer vermittelt, dass er für uns da ist.

Das Bedürfnis nach Vergewisserung

Gerade in der jetzigen Situation müssen wir uns immer wieder vergewissern, ob die Beziehungen noch so sind, wie wir glauben, weil wir uns nicht sicher sein können. Nur der andere kann uns diese Vergewisserung geben. Und wir brauchen sie dort um so mehr, wo wir weniger andere Zeichen erhalten können, wenn wir im persönlichen und körperlichen Kontakt reduziert sind. Dann bleibt uns noch die verbale Vergewisserung durch den anderen, und die ist hilfreich und notwendig.

Das Bedürfnis nach Grenzen

Grenzen kann man zu wenige haben oder zu viel. Gerade haben wir eher viel mehr Grenzen, als uns psychisch gut tut. Grenzen regen auch immer wieder dazu an, ihnen zu trotzen und sich gerade nicht an sie zu halten. So haben wir ja auch erlebt, dass sich viele Menschen dem anfänglichen Abstands-Gebot widersetzt, es nicht ernst genommen haben. Inzwischen ranken sich eine ganze Reihe von Verschwörungstheorien um diese Grenzen herum. Natürlich sind manche Grenzen zu willkürlich gewesen oder nicht klar genug.  Trotz hilft aber nicht wirklich. Wir brauchen eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um Grenzen und wir brauchen solche, die ausreichend akzeptiert werden. Gerade deshalb dürfen sie nicht überzogen sein. Die Abstandsregeln in Bayern waren definitiv für allein lebende Menschen zu streng, sie haben zu unerträglicher Isolation geführt. Zum Glück wurde diese Regel wieder gelockert, so dass wir uns auch mit einem Menschen treffen können, der nicht bei uns im Haushalt lebt.

Das Bedürfnis nach Bestätigung der eigenen Erfahrung

Wer hat den Menschen zugehört, die täglich an den Kassen gesessen haben und sich dem Risiko der Infektion ausgesetzt haben oder jenen, die in den Krankenhäusern Dienst getan haben? Wer hat denen zugehört, die sich zunehmend isoliert fühlten, wer den Alleinerziehenden, die auch noch Home-office gleichzeitig zur Kinderbetreuung zu bewältigen hatten? Wer hat den Alten zugehört, die in ihren Krankenzimmern isoliert waren und ihre Angehörigen nicht sehen durften? Deren Erfahrungen blieben lange Zeit versteckt hinter all den Berichten und Zahlen um Neu-Infektionen herum. Ein Bericht über deren Not hätte die Politik der Abschottung wahrscheinlich empfindlich gestört. Wenn wir nicht weiter zulassen wollen, dass viele Menschen psychischen Schaden nehmen, müssen wir ihnen zuhören. Das war einer der wichtigsten Gründe, weshalb meine Praxis die ganze Zeit geöffnet blieb.

Das Bedürfnis nach Einfluss

Die Einflussnahme wurde massiv ausgehebelt, indem verschiedene demokratische Rechte beschnitten wurden. Nicht wir, nicht der einzelne hatte Einfluss auf das Geschehen, sondern Politiker und Polizei. Das darf vielleicht mal vorübergehend so sein, aber wir brauchen zunehmend wieder mehr Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Geschehen um uns herum. Dauerhafte Unterbindung von Einflussnahme führt zu Rückzug, Hilflosigkeit und dem Gefühl der Ohnmacht – einem der massivsten Traumatisierungs-Phänomene.

Das Bedürfnis nach Initiierung

Das bedeutet, dass jemand anderes auch mal den ersten Schritt auf mich zu macht. Ich habe in dieser Zeit öfter die Erfahrung gemacht, dass es ausgesprochen positiv aufgenommen wurde, wenn ich in einem ersten Schritt Kontakt zu anderen Menschen aufgenommen habe. Das habe ich auch mit einzelnen Klienten getan, von denen ich wusste, dass die sich schnell mal mehr zurückziehen als gut für sie ist. Warum soll ich nicht auch einmal den ersten Schritt tun und meine Unterstützung anbieten?  Wenn das geschieht, weiß der/die Betroffene, da denkt jemand an mich, ohne dass ich vorher etwas dafür tun musste.

Das Bedürfnis nach Initiierung

In dieser Krise werden wir alle gleich behandelt. Das ist ja auch richtig, weil es dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes folgt. Dabei allerdings kommt unser Bedürfnis nach  Besonderheit und Einmaligkeit zu kurz. Natürlich sind wir alle Menschen. Als solche sind wir grundsätzlich gleich. Und doch brauchen wir unsere Besonderheiten, weil wir dadurch erst einmalig werden und unsere Identität finden. Im Kontakt mit Menschen, die uns das auch in dieser Situation spüren lassen und uns dafür schätzen, kriegen wir ein Stück weit dieses Bedürfnis befriedigt und es fällt uns vermutlich leichter, uns eins mit uns selbst zu fühlen, statt in Depression, Verzweiflung und Angst zu versinken.

Das Bedürfnis, etwas zu geben

Indem wir anderen etwas geben, auch wenn es materiell ist, geben wir Zuwendung. Jeder Säugling hat bereits dieses Bedürfnis und sollte nicht darin eingeschränkt werden. Denn gute Beziehungen bestehen aus Nehmen und Geben. Denn wenn mein Gegenüber nicht nimmt, was ich ihm geben möchte, sind wir mehr oder weniger tief verletzt. Auch in dieser Krise gibt es unzählige Beispiele von Menschen die anderen viel geben und das auch gern tun. Da ist die Nachbarschaftshilfe z.B. beim Einkaufen, das freundliche Grüßen auf der Straße oder beim Spazierengehen und vieles andere mehr. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten zu geben aufgrund der Kontaktbeschränkungen gerade stärker begrenzt. Ich kann dem anderen Aufmerksamkeit schenken. Ich kann zum anderen den virtuellen Kontakt suchen und mein ehrliches Interesse schenken. In diesem Sinne ist das Geben bedingungslos, brauche in erster Linie nur, dass es genommen wird. Sobald wir hier in ein Tauschgeschäft geraten, ist die Wirkung schon eingeschränkt.

Wir können also auch in dieser Situation auf Beziehungsbedürfnisse von uns und anderen eingehen und dafür sorgen, dass es allen besser geht. Darüber freut sich dann auch noch unser Immunsystem.


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Ein Gedanke zu “Wozu brauchen wir andere?

  • Gudrun Huber

    Herzlichen Dank für diesen Newsletter. Ich bin selbst in einem therapeutischen Arbeitsfeld tätig und halte mich mich für einen stabilen, selbstbestimmten und reflektierten Menschen. Ich lebe aktuell alleine und die strengen Kontaktregeln in Bayern waren einer der härtesten Erfahrungen für mich in der gesamten Corona Krise. Wie kann man so eine Entscheidung treffen. Ich kann nur hoffen dass Menschen denen es ähnlich erging den Mut hatten diese Regel für sich ausser Kraft zu setzen und sich trotzdem mit einem realen Menschen trafen. Für mich grenzte es schon an „menschenunwürdig“ . Durch eine Vollschliessung meines Unternehmens und alle Mitarbeiter in Kurzarbeit und Homeoffice mussten- war ich sozusagen von einem Tag auf dem anderen in einer Vollisolation. Nach ein paar Wochen bemerkte ich Veränderungen an mir und dann habe ich neue Entscheidungen getroffen, die mir sehr geholfen habe !