Emotionale Entfremdung in Corona-Zeiten


Vorgänge emotionaler Entfremdung tauchen in diesen Zeiten immer wieder auf: Um Situationen zu bewältigen, nehmen wir häufig ‚Abstand von unseren Gefühlen. Aufgrund der sozialen Gesamtsituation waren bestimmte Bedürfnisse nicht zugelassen, wie das Bedürfnis nach Nähe und folglich haben wir uns die zugehörigen Gefühle von Traurigkeit, Enttäuschung, Verzweiflung, etc. nicht zugelassen. Die Gefühle hätten kein Gegenüber gehabt und es wäre zu schwer gewesen, mit diesen Gefühlen allein zu sein. Viele von uns haben Gefühle von Angst, Wut und Traurigkeit übersprungen, um damit gleich in der Resignation zu landen. Das ist der beste Weg, den Schmerz nicht mehr wahrnehmen zu müssen.
Das haben wir auch gut gelernt, denn dieser Mechanismus stand schon früh in unserer psychischen Entwicklung zur Verfügung, wenn unsere Bezugspersonen nicht oder nicht angemessen auf unsere Bedürfnisse reagiert haben. Wenn das öfter geschehen ist, haben wir gelernt, dass es besser ist, diese Gefühle nicht zu spüren, um nicht damit übersehen oder gar abgelehnt zu werden.
Wenn wir aber diese Gefühle nicht mehr wahrnehmen können, verarmen wir emotional. Das wird letztlich auch für andere spürbar und die werden dann irritiert sein, sich selber nicht gesehen fühlen und emotional nicht beantwortet. Das ist der Preis für diesen Schutz, den wir im Vorhinein natürlich nicht absehen konnten. Und wenn das als Muster erst einmal etabliert ist, setzt es sich immer wieder von allein durch. So werden wir uns zunächst selbst fremd und dann für andere.

Die erste Stufe emotionaler Entfremdung

In der jetzigen Krise haben viele Menschen erlebt, dass die Umwelt auf ihr Bedürfnisse nicht reagiert hat, diese sogar unter Strafe gestellt hat, nämlich das natürlichste Bedürfnis der Welt nach Kontakt zu anderen. Nachdem zunächst die Bitten der Politiker um räumliche Distanz nicht so umfassend befolgt wurden, wie erwartet, wurden harte Verbote ausgesprochen mit Bußgeldkatalogen. Bei vielen hat das eher trotzige bis wütende Reaktionen hervorgerufen, die mit zunehmender Dauer stärker wurden. Aus dieser Quelle stammten auch viele der umhergeisternden Bedrohungsszenarien und Verschwörungstheorien, die sich mit Macht gegen die Entscheidungen der Politiker in Position gebracht haben. Gemeint ist hier nicht berechtigte Kritik. Die ist wichtig und hilfreich, um Entgleisungen zu korrigieren. Gemeint ist hier die massive Ablehnung aller Einschränkungen, die keiner Argumentation mehr zugänglich sind. Wenn wir die Erfahrung gemacht haben, dass wir auf diesem Wege etwas erreichen können, dann reagieren wir tendenziell analog diesem Muster, nämlich mit „kultiviertem“ Ärger.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die zweite Stufe emotionaler Entfremdung

Viele Menschen haben sich in dieser Corona-Zeit als Opfer gefühlt, anderen ausgeliefert und sie haben angefangen zu klagen. Natürlich ging es vielen Menschen richtig schlecht.  Viele der allein Lebenden konnten auf die Situation des Isoliertseins nur mit Traurigkeit reagieren. Sie haben – nach altem erlernten Muster – die natürliche Reaktion der Wut auf die Nichtbeantwortung des ebenso natürlichen Bedürfnisses nach Kontakt übersprungen. Ein Muster, das sich durch frühe Erfahrungen verselbständigt hatte, wird so reaktiviert und hat die ohnehin schon bestehende Unsicherheit und Ohnmacht in der Krisensituation noch verstärkt. Die Fähigkeit, gut für sich zu sorgen, die sowieso nicht hoch entwickelt war, hat noch einmal abgenommen. Wir können sagen, dass diese Menschen aus ihrer Erfahrung heraus, Traurigkeit als Bewältigungsstrategie „kultiviert“ haben, weil das irgendwann im Leben mal erfolgreich war.

Die dritte Stufe emotionaler Entfremdung

Es gab auch viele Menschen, die einfach resigniert und sich der Ohnmacht hingegeben haben aus der Überzeugung heraus, auf die Situation sowieso keinen Einfluss zu haben. Dummerweise stimmt es ja auch, dass unsere Einflussmöglichkeiten in dieser Pandemie abgenommen haben, auch wenn sie nie bei Null waren. Hier hat sich mit der Resignation die Depression entwickelt, die Hoffnungslosigkeit hat zugenommen. Diese Menschen haben in der Vergangenheit erlebt, dass sie keinen Einfluss hatten, dass sie regelmäßig angehalten wurden, sich zu fügen und die möglicherweise als dumm und unfähig hingestellt wurden. Wir können diese Stufe als „kultivierte“ Resignation bezeichnen, d.h. bei Menschen mit einem solchen Erfahrungshintergrund taucht sie jedoch automatisch, wenn sich ihnen etwas in den Weg stellt. Die Resignation ersetzt die Trauer, weil wenn mit der Trauer auch nichts erreicht werden kann, dann nur noch die Resignation bleibt.

Versteckte Resignation

Diese dritte Stufe der emotionalen Entfremdung kann sich auch verstecken in Form einer hohen Betriebsamkeit, durch ständiges Arbeiten-müssen oder auch ständige soziale Kontakte oder hektische Tätigkeit in sozialen Medien. Die dadurch entstandene hohe soziale Anerkennung konnte die Gefühle von Resignation und Depression verdecken und auch für Betroffene unsichtbar machen. Durch das Herunterfahren des sozialen Lebens waren viele dieser Kompensations-Versuche nicht mehr wirksam. Die Aktivität in sozialen Medien konnte ungerührt fortgesetzt werden, hier begegnete einem aber auf Schritt und Tritt die Konfrontation mit Nachrichten und Sichtweisen zu Covid19. Also auch hier nicht wirkliches Entrinnen von der Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Eine andere Art, die Resignation zu verstecken, ist, auch in dieser Situation glücklich sein zu müssen, alle Gefahren nicht ernst zu nehmen, sich darüber hinwegzusetzen, so zu tun, als wäre die Welt wie immer. Spätestens in Zusammenhang mit der Übersterblichkeit in Italien und Spanien und den Bildern davon konnte die Vermeidung nicht mehr aufrecht erhalten werden und der depressive Absturz folgte unmittelbar.

Übung: Emotionale Entfremdung

  • Auf welcher Stufe der emotionalen Entfremdung hängen Sie in diesen Corona-Zeiten häufig fest?
  • Welches sind Ihre kultivierten negativen „Lieblingsgefühle“?
  • Was muss geschehen, damit Sie Ihre ursprünglichen Gefühle und Bedürfnisse auch in dieser Situation wieder zulassen können?

(siehe zu diesem Konzept auch: Weil, Thomas/Erfurt-Weil, Martina, Selbstwirksamkeit und Performance, S. 61 ff., Kassel 2010)

 

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