Morgengrauen – ohne Ende


Ich bin aufgewacht – bleierne Schwere und Müdigkeit in den Knochen. Bin ich das wirklich? Habe ich überhaupt geschlafen? Bloß nicht aufstehen jetzt! Meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Ich lasse die Augen zu. Kreise in mir. Ich denke: Das hört nie auf! Ich spüre die Schwere zunehmend im Körper, in den Gliedern. Gleichzeitig brüllt mir eine Stimme ins Ohr: „Stell dich nicht so an, du Schwächling!“ Da sind sie wieder, diese Stimmen, die mich nicht in Ruhe lassen. Eigentlich will ich nur Ruhe, sonst nichts, gar nichts. Aber sie will nicht einkehren. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Ich wälze mich im Bett hin und her, die Unruhe nimmt zu. „Wieder so ein Scheißtag!“, sagt die Stimme. „Tu was! Mach was!“ Ich spüre aber, wie mein Körper streikt. Er kann sich nicht erheben, ist so schwach, schwach wie noch nie.

Depressive Verstimmungen wie noch nie zuvor

So beschreibt Matthias (Name geändert), ein Künstler, das, was er „verlorene Tage“ nennt. Depressive Verstimmungen habe er schon hier und da erlebt, aber nie zuvor in dieser Heftigkeit. Aber seit etwa einem Monat nehmen die oben geschilderten massiv zu.

Er fühle sich zum Zerreißen – manchmal stundenlang oder den ganzen Tag. Er komme aus dieser Hölle gar nicht mehr raus. Ich kenne Matthias eigentlich als aktiven, interessierten und kreativen Menschen – na klar, sonst wäre er ja auch nicht Künstler. Bis kurz nach Weihnachten hat er sich noch einigermaßen über Wasser halten können – stimmungsmäßig.

Es ist nicht toll gewesen, aber er ist durchgekommen. Er hat einige Drucke produzieren und verkaufen können in der Weihnachtszeit. Das ist jetzt aber saisonal auf dem Nullpunkt. Da er keine Kosten geltend machen kann – ein Atelier könne er sich nicht leisten –, hat er Sozialhilfe beantragen müssen, was für ihn demütigend gewesen sei. Denn dabei hat er auch die Einkünfte seiner Partnerin, mit der er zusammen lebt, angeben müssen, als müsse die ihn nun versorgen. So etwas hat er nie gewollt. Er hat finanziell immer unabhängig sein wollen. „Das drückt aufs Gemüt.“

Geht es nur mir so?

Es geht sogar so weit, dass er kein Interesse mehr an Sexualität hat, worunter seine Partnerin wiederum leidet. Auch gehen ihm die persönlichen Kontakte zu Freunden ab. Die meisten in seiner Umgebung haben sich zurückgezogen, so dass er im Wesentlichen nur Kontakt zu seiner Partnerin hat. Und viele seiner Kollegen würden seiner Meinung nach eine Schönwetterpolitik betreiben, indem sie behaupteten, es gehe ihnen gut. Diese seien nicht bereit, über die Schwierigkeiten in der bestehenden Situation zu sprechen. So fühle er sich noch mehr allein und er ertappe sich immer wieder dabei zu glauben, er sei der einzige, dem es so gehe.

Das alles zusammen – einhergehend mit der Perspektivlosigkeit, die ihm kein Ende dieser Situation in Aussicht stellt – hat die depressive Krise seit Jahresbeginn heraufbeschworen und verschärft.

Stabilisierung, statt Psychotherapie

Matthias ist kein Einzelfall in meiner Praxis. Die Häufung dieser und ähnlicher Schicksale machen mich betroffen. Hier kann eigentlich keine Psychotherapie im eigentlichen Sinne stattfinden, sondern im Wesentlichen Stabilisierung, weil die Menschen gar nicht die psychische Kraft haben, sich der Aufarbeitung der inneren Konflikte zu stellen. Da braut sich sozialpsychologisch in unserer Gesellschaft etwas zusammen, womit wir auch nach einem vermeintlichen Ende der Pandemie noch zu tun haben werden. Menschen wie Matthias sind tief in ihrem Selbstwert getroffen und es wird sicher einige Zeit dauern, bis Matthias wieder einigermaßen „Tritt gefasst“ hat, wenn es überhaupt gelingt.

Wir wissen, dass die Bearbeitung von Selbstwertproblemen eine langwierige Angelegenheit ist. Scharen von Psychotherapeuten werden damit zu tun haben, solche Menschen zu unterstützen und mit ihnen wieder Perspektiven zu entwickeln. Ich merke es auch daran, dass die Anzahl der Menschen, die einen Therapieplatz suchen, in den letzten Monaten stark gestiegen ist. Es tut mir jedes Mal in der Seele weh, all diesen Menschen wegen Überfüllung absagen zu müssen; zumal ich weiß, dass der Großteil von ihnen sich einen privaten Therapieplatz nicht leisten kann gerade auch wegen der finanziellen Einschränkungen des Lockdowns.

Kollateralschäden in der Gesellschaft

Dieses beinahe aussichtslose Unterfangen der Therapieplatzsuche wirkt auf die ohnehin prekäre Situation dieser Menschen noch verschärfend. In der Sprache des Militärs sind das „Kollateralschäden“ eines Kampfes. Wer zieht diese mit ins Kalkül? Wie viele depressive oder deprimierte und in ihrem Selbstwert eingeschränkte Menschen kann sich diese Gesellschaft leisten?

Wir als Psychotherapeuten können Unterstützung und Kontakt anbieten, was wir seit Beginn der Pandemie die ganze Zeit getan haben. Wir können depressive Krisen abzumildern helfen. Wir können stabilisieren, wie wir das nennen. Wir können aber in dem bestehenden Umfeld mit seinen Einschränkungen nicht heilen. Ich frage mich, ob das die „Kollateralschäden“ sind, die die Politik und die Gesellschaft in Kauf nehmen wollen.

Wann ist die Überlastung der Menschen erreicht?

Natürlich ist diese Pandemie bedrohlich, sie bedroht Leben und hat es auch schon in einem Ausmaß vernichtet, wie es die Nachkriegsgenerationen unserer Gesellschaft noch nie zuvor erlebt haben. Aus der Traumatherapie kennen wir die sogenannten fight-flight-Reaktionen: Angesichts drohender Gefahr reagieren wir mit Angst und Wut zugleich, um zu kämpfen oder wenigstens weg zu laufen. Wenn beides nicht geht, bleibt der Totstellreflex – ein Zustand der Erstarrung, zugleich der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins bei gleichzeitig hoher Angsterregung. Genau diesen Zustand erleben Menschen wie Matthias gegenwärtig zuhauf und das nun schon über lange Zeit. Das hinterlässt Spuren und die Frage: Wann aber ist die Belastbarkeit der betroffenen  Menschen erreicht? Ab wann sind sie von den jetzigen Erfahrungen für längere Zeit gezeichnet?

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