Die Erschöpfung der Ausdauer


„Neben Depressionen, Angst-und Anpassungsstörungen nehmen vor allem die sogenannten somatoformen Störungen zu, also Müdigkeit, Erschöpfung und Schmerzen ohne organische Ursachen. Außerdem wird nicht gut geschlafen, was die psychische und physische Resilienz schwächt.“ (Christine Lemke-Matwey in: Die Zeit, 2021 No.4, S. 58)

Anstieg von depressiven Störungen

In der Praxis nehmen insbesondere die depressiven Störungen zu. Entweder werden vorhandene Depressionen stärker, nehmen also im Schweregrad zu, oder Menschen, die noch nie mit Depression zu tun hatten, erleben es das erste Mal: Kreisen negativer Gedanken („Keiner interessiert sich für mich.“), Hoffnungslosigkeit („Hört das denn nie auf?“), körperliche Schlappheit („Ich komme morgens nicht aus dem Bett.“), mangelnder Antrieb („Schon wieder dieselbe Spazierrunde drehen.“), die Struktur verlieren, sich selber und seine Wünsche und Bedürfnisse verlieren bzw. keinen Zugang mehr zu ihnen finden, nicht einschlafen oder häufig nachts aufwachen und nicht wieder einschlafen können, morgens aufwachen und erschöpft sein trotz ausreichendemSchlaf und vieles mehr.

Corona bedingte Anlässe

Die Anlässe dafür sind vielfältig. Sie hängen in diesen Zeiten aber in erster Linie mit den Corona-bedingten Einschränkungen zusammen oder werden dadurch verschärft. Die Menschen machen sich finanzielle Sorgen, ihnen fällt zu Hause die Decke auf den Kopf, in kriselnden Partnerschaften verstärkt sich die Krise, die Belastungen zu Hause sind zu viele, das Home-schooling verschärft die Belastungen genauso wie das Home-office. Und am meisten fehlen die förderlichen und hilfreichen Kontakte und Abwechslungen, der Genuss. Es fehlen die anderen Menschen, mit denen wir in einen direkten Austausch treten, sie nicht nur hören, sondern auch spüren können–entweder direkt und unmittelbar körperlich oder atmosphärisch.

Bleibt da Vertrauen in die Politik?

Hinzu kommt das ewige Vertrösten seitens der Politik: Nur scheibchenweise wird uns die Belohnung für unsere Anstrengung vor die Nase gehalten wie dem Esel die Mohrrübe: „…nur noch bis zum 1.12. oder 15.1. oder …, dann ist die Welle gebrochen.“ Nur noch ein bisschen anstrengen und durchhalten, dann kommt die große Belohnung. Sie kommt dann aber nicht, stattdessen werden wir wieder vertröstet. Das strapaziert das Vertrauen und wir hängen dann in der Verzweiflungs-Spirale fest.
 
Ich höre von manchen Patienten: „Das hört doch nie auf!“ „Es wird immer schlimmer!“ etc. Manche der verordneten Regelungen ergeben auch keinen rechten Sinn, so dass man zunehmend den Eindruck bekommt, die Einschränkungen seien willkürlich. In der Tat fehlt ihnen manchmal die Logik: Wieso darf 1 Person eine Familie besuchen, aber die Familie nicht umgekehrt die 1 Person? Wieso werden die Eltern davor gewarnt, ihre Kinder in die Notbetreuung der Schule zu schicken, und die sozial schwachen Familien nicht explizit eingeladen, die Notbetreuung aufzusuchen? Durch die Ungereimtheiten nimmt insgesamt die Bereitschaft ab, die Verordnungen für sinnvoll zu halten und als Schutz zu begreifen.

Der lebendige Austausch fehlt

Die Kinder und Jugendlichen, deren Bewegungs-und Explorationsdrang stark eingeschränkt ist, versinken entweder zunehmend in den sozialen Medien, weil dies das sicherste Kontaktmittel zu den Freunden und Peers ist. Der lebendige Austausch miteinander im gemeinsamen Erleben gerät immer mehr ins Hintertreffen. Einige reagieren mit verstärkter Aggression, weil sie es nicht mehr aushalten, andere mit noch mehr Rückzug. Die Folgen, die das für unsere Kultur haben wird, sind noch nicht abzusehen. Auch die Verunsicherung mit Diskussionen über eine Impfpflicht oder Vorteile für Geimpfte heizt die Gemüter nur an, insbesondere bei denen, die sich nicht impfen lassen wollen. Dass das ihr gutes Recht ist, wird schon gar nicht mehr erwähnt.

Keine realistischen Aussichten

Die dauernden Appelle der Politiker helfen an dieser Stelle nicht weiter. Solange es keine realistischen Aussichten gibt, wann was wieder möglich sein soll, wird es auch keine Beruhigung geben. Natürlich ist das Ganze nicht wirklich planbar. Die neuen Virus-Varianten z.B. torpedieren klare Aussagen. Für Fachleute war das keine Überraschung –sie habendie ganze Zeit mit Mutationen gerechnet. Aber fürs normale Volk nimmt damit die Aussicht auf Erleichterungen rapide wieder ab. Wie ist es möglich, auch noch unter solchen Bedingungen Hoffnung zu vermitteln, vor allem wenn der Hoffnungs-Kredit allmählich aufgebraucht ist?

Ressourcenarbeit in der Praxis

In der Praxis versuchen wir, an den Ressourcen unserer Patienten anzusetzen, ihnen dazu wieder einen Zugang zu verschaffen. Da ist z.B. der Künstler, der praktisch Arbeitsverbot hat und der nur für sich und vor sich hin arbeiten kann, ohne die Resonanz, die er so dringend für seine Arbeit braucht und ohne die Anregung aus dem sozialen Raum, aus der heraus seine künstlerische Arbeit entsteht. Für ihn kann es beispielsweise helfen, sich genauer damit zu befassen, wie er zukünftig arbeiten will, wie seine Arbeitsumgebung aussehen soll, was er bessern möchte und anders machen möchte im Vergleich zu der Zeit vor Corona.
Was davon kann er schon jetzt in die Tat umsetzen? Wen braucht er eventuell dazu? Denn indem wir uns konstruktiv wieder mit unserem Leben befassen, werden wir zum vorausschauenden Planer, zur vorausschauenden Planerin.
Oder die Frau, die große Ängste vor der politischen Zukunft hat, auf welche ihrer Ressourcen kann sie setzen? Was kann sie jetzt bewegen? Was liegt ihr am Herzen jenseits der politischen und Zukunftsängste? Was ergibt sich eventuell aus dieser anderen Herangehensweise?
 
Eins ist klar, in der jetzigen Situation braucht es uns so dringend, wie selten zuvor. Wir sollten uns dessen bewusst sein und unseren Teil dazu beitragen, diese Krise zu bewältigen.

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