Umgang mit Paradoxien im Team und in Organisationen – Brücken bauen zwischen Gegensätzen
Denken wir an Paradoxien und Ambivalenzen, so lohnt sich ein Blick auf den Umgang und die Wirkungen im unternehmerischen Umfeld.
Organisationen und Teams leben von Spannungen. Sie sollen innovativ sein und gleichzeitig verlässlich arbeiten. Führungskräfte sollen klare Entscheidungen treffen – und gleichzeitig Beteiligung ermöglichen.
Wer im Alltag versucht, diese Gegensätze aufzulösen, merkt schnell: Es geht nicht!
Die systemische Sichtweise
Systemisch gesprochen handelt es sich um Paradoxien – Spannungsfelder, in denen beide Seiten zugleich gültig sind. Der produktive Umgang mit ihnen entscheidet oft darüber, ob Teams blockiert sind oder beweglich bleiben.[1]
Die systemische Haltung betont: Paradoxien sind keine Fehler, sondern Ausdruck lebendiger Systeme. Sie fordern uns heraus, Brücken zu schlagen – nicht ‚entweder–oder‘, sondern ein ‚sowohl–als–auch‘ zu kultivieren.
Die fünf zentralen Paradoxien im Teamkontext
Stabilität ↔ Veränderung
Teams brauchen Routinen, Verlässlichkeit und klare Strukturen. Gleichzeitig erfordert die Umwelt ständige Anpassung und Veränderung. Wer nur stabil bleibt, erstarrt – wer nur verändert, verliert Halt. Die Kunst liegt darin, eine Brücke zu bauen: Stabilität als Fundament, Veränderung als Bewegung darauf.
Autonomie ↔ Zugehörigkeit
Mitarbeitende wollen eigenständig entscheiden – und zugleich Teil eines Ganzen sein. Zu viel Autonomie gefährdet Zusammenhalt, zu viel Zugehörigkeit verhindert Eigeninitiative. Teams, die Brücken schlagen, schaffen Räume für individuelles Handeln innerhalb eines klaren Rahmens.
Effizienz ↔ Innovation
Organisationen sollen Prozesse schlank und effizient gestalten – und zugleich Neues erfinden. Effizienz drängt auf Wiederholung und Standardisierung, Innovation lebt vom Experiment. Eine Brücke entsteht, wenn Teams bewusst zwischen „Effizienz-Modus“ und „Innovations-Modus“ wechseln.
Nähe ↔ Distanz
Besonders in hybriden Arbeitsformen zeigt sich dieses Spannungsfeld: persönliche Nähe ermöglicht Vertrauen, Distanz schafft Freiheit und Abstand. Teams brauchen die Bewegung zwischen beiden Polen – manchmal Nähe in Begegnungen, manchmal Distanz für Fokus und Klarheit.
Transparenz ↔ Geheimhaltung
Organisationen rufen nach Offenheit, Transparenz und Partizipation. Gleichzeitig erfordern bestimmte Entscheidungen Vertraulichkeit. Wird alles offengelegt, entstehen Unsicherheit und Überforderung; wird zu viel zurückgehalten, wächst Misstrauen. Eine Brücke entsteht, wenn klar markiert wird, was warum transparent oder vertraulich ist.
Paradoxien als Mittel der Organisation in Unternehmen
Organisationen werden teilweise bewusst um Paradoxien herum angelegt. Wenn wir z.B. das Paradox Sicherheit vs. Steigerung von Umsatz nehmen, dann gibt es z.B. in Banken den Vertrieb, der möglichst viel Geschäft über Kredite generieren soll, und das Backoffice, das die Sicherheitsaspekte in den Vordergrund stellen und prüfen soll, wie wahrscheinlich die Rückzahlung des Kredits zu erwarten ist oder wie gut er durch andere Werte abgesichert ist. Dies sollte sich dann in er Vertragsgestaltung niederschlagen. Hier wird bewusst eine Paradoxie benutzt, um das Unternehmen bestmöglich vor faulen Krediten zu schützen.
Paradoxien und Ambivalenzen – was ist der Unterschied?
Beides beschreibt Spannungsfelder, doch systemisch gibt es eine wichtige Unterscheidung:
- Paradoxien sind strukturell:
Sie entstehen auf der Ebene von Systemen und in der Kommunikation. Sie sind unauflösbar, weil beide Seiten zugleich gültig bleiben (z. B. „Sei spontan!“, s. Paradoxien und Ambivalenzen 1). - Ambivalenzen sind subjektiv:
Sie entstehen auf der Ebene individueller Gefühle oder Motive. Sie können sich auflösen oder verschieben, wenn Prioritäten oder Entscheidungen klarer werden (z. B. „Ich liebe meinen Job – und er erschöpft mich zugleich.“). Indem ich die Ambivalenz annehme und mir sage, beide Seiten gehören dazu oder zu mir, reduziere ich die innere Spannung und kann leichter damit umgehen. D.h. auch, ich muss mich nicht entscheiden zwischen den Ambitendenzen[2], sondern sie bleiben erhalten und ich kann damit leben.
Gemeinsamkeit: Beide fordern dazu auf, nicht vorschnell auf eine Lösung abzuzielen, sondern Spannungen auszuhalten und als Ressource zu nutzen.[3]
Paradoxien und Ambivalenzen bei Entscheidungen in Organisationen
Auch in Organisationen haben wir es nicht nur mit Paradoxien, sondern auch mit Ambivalenzen zu tun. Letztere zeigen sich auch hier mehr als subjektive innere Anspannungen, die sich insbesondere dort auswirken, wo Entscheidungen[4] getroffen werden müssen.
Jeder Entscheidungsträger weiß von diesen Ambivalenzen: Folge ich eher dem Bedürfnis nach Sicherheit und gehe kein Risiko ein auch um den Preis, dass der jeweilige Prozess, zu dem die Entscheidung gehört, dadurch verlangsamt oder gar aufgehalten wird oder bin ich bereit, ein Risiko einzugehen, das auch ein Scheitern möglich macht, aber bei Erfolg einen umso höheren Gewinn? Diese Abwägung kann mir niemand abnehmen, weil ich als Entscheidungsträger in jedem Fall die Folgen zu verantworten habe.
Entscheiden heißt: Och weiß nicht, wie die Dinge sich weiter entwickeln werden und muss entscheiden, statt die Folgen auszurechnen, wenn mir alle Parameter bekannt sind. Deshalb liegt oft so viel Spannung auf Entscheidungen, weil ich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen kann über den Ausgang der Dinge.
Aber auch Mitarbeiter treffen ständig Entscheidungen wie „Stelle ich all mein Wissen der Firma zur Verfügung oder mache ich Dienst nach Vorschrift?“ Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung meines Arbeitsplatzes und meine Karriere.
Ähnlich ist es bei Changeprozessen: Wenn wir mal die Gegner ausnehmen, dann gibt es viele Betroffene, die mit ambivalenten Gefühlen in Bezug auf die Veränderungsprozesse zu tun haben. Hierbei ist die Frage für Führungskräfte: Wieviel an Sicherheit brauchen meine Mitarbeiter, um ihre ambivalenten Gefühle abzufedern und sie so zum Mitmachen zu gewinnen.
Fazit: Brückenkompetenz entwickeln und Paradoxien und Ambivalenzen nutzen
Paradoxien und Ambivalenzen verschwinden nicht. Sie sind Teil lebendiger Systeme – und oft Treiber für Entwicklung. Wer sie erkennt, benennt und bewusst gestaltet, entwickelt eine neue Kompetenz: Brücken bauen zwischen Gegensätzen. Statt im Entweder–Oder gefangen zu bleiben, lernen Teams die Bewegung zwischen Polen. So werden Paradoxien nicht zum Problem, sondern zu einer Ressource für Klarheit, Kreativität und Zusammenarbeit.
Hier entsteht die Frage: Wie kann das gehen? Welche Mittel können wir als Coaches oder Führungskräfte einsetzen, um diese Brückenkompetenz zu entwickeln? Das wird einem gesonderten Artikel vorbehalten bleiben.
[1] In dem Kurzartikel von Ralf Vorschel, auf den durch den oberen Link verlinkt wurde, wird eine ähnlich Sichtweise wie hier vertreten.
[2] Ambitendenzen sind das körperliche Gegenstück der Ambivalenzen. Während bei der Ambivalenz, wie der Name schon sagt, ein Bewertungsprozess dazu gehört, handelt es sich bei Ambitendenzen um körperliche Vorgänge wie Impulse, die gegensätzlicher Natur sein können.
[3] Häufig wird in der Literatur nicht unterschieden zwischen Paradoxie und Ambivalenz. Für mich ist das ein bedeutsamer Unterschied, denn die im Außen vorfindliche Paradoxie, also dass mehr als eine Wahrheit existieren könnte, unterscheidet sich von der inneren Ambivalenz zwischen zwei oder mehr Tendenzen und/oder Gefühlen.
[4] Klaus Eidenschink beschreibt grundsätzlich Entscheidungen als behaftet mit Paradoxien, weil immer etwas gegen eine Entscheidung vorgebracht werden kann.




