Vergänglichkeit berührt – 3 Perspektiven

Ein persönlicher und psychologisch fundierter Essay über Vergänglichkeit

Warum die Anerkennung unserer Endlichkeit uns lebendig macht

1. Ein persönlicher Moment der Endlichkeit

Die Kerzen brennen still.
Die Musik beginnt leise.
Im Raum entsteht eine Stille, die fast körperlich spürbar ist.

Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen niemand etwas sagen muss.
Alle sitzen da — und wissen: Etwas Wesentliches geschieht.

Es ist der Abend „Come together – Vergänglichkeit“.
Ein Raum voller Menschen, die bereit sind, hinzusehen.
Nicht weg. Nicht darüber hinweg.
Sondern hin.

Ich spüre einen Kloß im Hals. Nicht aus Trauer — eher aus Wahrhaftigkeit.
Vergänglichkeit macht nichts mit meinem Kopf, sie trifft mich im Herzen, im Körper.

Ich erinnere mich, wie ein leiser Song den Raum füllte.
Nur ein paar Zeilen, fast ein Hauch:

„Take these broken wings…“

Und plötzlich sehe ich die Menschen anders. Verletzlich. Echt.
Niemand spielt eine Rolle.
Niemand versteckt sich.

In diesen Augenblicken begreife ich:

Vergänglichkeit ist nicht das Problem. Die Illusion von Unendlichkeit ist es.

2. Was Vergänglichkeit psychologisch auslöst: Angst, Weite, Sinn

Wir leben, als hätten wir unendlich Zeit.
Wir verschieben Gespräche. Entscheidungen. Begegnungen. Liebe.

„Wenn es irgendwann ruhiger ist… dann lebe ich.“

Doch die Psyche funktioniert anders.

In der psychologischen Forschung gibt es ein Modell, das genau das beschreibt:
Terror-Management-Theorie (TMT) – entwickelt von Greenberg, Pyszczynski & Solomon.

Kurzfassung ihrer Erkenntnisse:

  • Das Wissen um unsere Endlichkeit erzeugt existenzielle Angst.
  • Um diese Angst zu kontrollieren, entwickeln wir Strategien:
    • Wir suchen Bedeutung.
    • Wir suchen Verbundenheit.
    • Wir wollen Spuren hinterlassen.

Wird Vergänglichkeit bewusst, dann rückt Sinn in den Vordergrund.

Irvin Yalom, einer der wichtigsten Existenzpsychotherapeuten, schrieb:

„Die Konfrontation mit dem Tod rüttelt uns wach.
Sie bringt uns dazu, intensiver zu leben.“

Psychologisch geschieht dabei etwas Bemerkenswertes:

  • Die Angst zeigt uns, was uns wichtig ist.
  • Vergänglichkeit kanalisiert Aufmerksamkeit.
  • Endlichkeit erzeugt Priorität.

Wir beginnen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

Ich erlebe das in der Praxis immer wieder:
Manche Menschen werden erst dann mutig, wenn sie spüren, dass das Leben endlich ist.

3. Unser Nervensystem und Endlichkeit – neurobiologische Perspektive

Vergänglichkeit ist nicht nur ein Gedanke.
Sie ist ein körperliches Ereignis.

Wenn wir mit Abschied, Verlust oder Ungewissheit konfrontiert werden, reagiert das Nervensystem.
Der Körper erkennt: „Das könnte gefährlich sein.“

Aus Sicht der Polyvagal-Theorie (Stephen Porges) gibt es drei Grundzustände:

ZustandNervensystemGefühl
Sicherheit / Verbundenheitventraler Vagus„Ich bin hier. Ich bin verbunden.“
Kampf / FluchtSympathikus„Ich muss handeln.“
Erstarrungdorsal-vagaler Shutdown„Ich kann nichts tun.“

Vergänglichkeit aktiviert oft sympathischen Teil des autonomen Nervensystems (Unruhe, innerer Druck) oder Shutdown (Gefühl von Ohnmacht).

Diese Reaktionen sind normal.

Der Körper versucht nicht, den Tod zu begreifen —
er versucht Überleben zu sichern.

Darum erleben viele Menschen bei Abschieden oder Verlusten:

  • körperliche Enge
  • Atemnot
  • innere Unruhe
  • Erschöpfung

Erst wenn wir uns wieder verbunden fühlen — mit einem Menschen, mit einem Wert, mit etwas Größerem — öffnet sich das System. Dann wird Vergänglichkeit transformierbar.

Deshalb wirkt in der Therapie Verbundenheit oft stärker als jede Technik.

In dem traumatherapeutischen Ansatz ROMPC® (Relationship-oriented Meridian-based Psychotherapy & Counselling) nennen wir das:

Regulation durch Beziehung.

Wir heilen nicht durch Erkenntnis.
Wir heilen durch Verbindung.

HInweis: Über die Auslöser und Wirkungen von Angst lesen Sie gerne auch diesen Artikel.

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