Wissenswertes im Coachingalltag: Wirklichkeitskonstrukte


Wir werden in der nächsten Zeit Artikel aus dem Coachingalltag und der systemischen Praxis veröffentlichen. Die Inhalte sind auch Gegenstand der Ausbildung zum Systemischen Coach und Supervisor.

Folge 1: Wirklichkeitskonstrukte

Eine Führungskraft, Herr B., war am Rande des Burnouts. Er schlief nicht mehr richtig, die ganze Nacht gingen ihm Szenarien durch den Kopf, wie er seinem Chef begegnen könnte. Regelmäßig wachte er auf und fand sich in der unterlegenen Position wieder: Er hatte es wieder falsch gemacht, er war ein Versager, so sein Selbstbild und Erleben in der Situation mit seinem Chef.

Nach so einer Nacht konnte er den nächsten Tag vergessen, er hatte sämtliche Kreativität verloren, war nur müde und resigniert. Jedes Mal musste er mühsam seinen Selbstwert aufbauen, bis er wieder anfangen konnte, seine Kreativität zu entfalten. Bis dahin konnte er nur einfachere Aufgaben abarbeiten. Natürlich war das in seinem Job auch nötig, aber er fühlte sich dabei wie gelähmt, seiner kreativen Fähigkeiten beschnitten.

Was hatte der Chef Schlimmes getan? Aus dessen Sicht gar nichts. Er hatte seiner Führungskraft Herrn B., der wiederum ein Team von 15 Mitarbeitern führt, nur ein paar zusätzliche Ideen mit auf den Weg geben wollen, die ihm gerade eingefallen waren, mehr nicht.

In der Welt von Herrn B. kam das nur ganz anders an: Ich muss jetzt tun, was er will, was er mir aufgetragen hat.

In der Welt des Chefs hieß das nur, noch weitere Ideen hinzuzufügen und Herr B. sollte mit seinem Team noch einmal überlegen, ob der eingeschlagene Weg wirklich der beste war, oder ob es noch bedenkenswerte Alternativen gab.

Wie unterschiedlich wir die Wirklichkeit wahrnehmen

Wir haben es also mit zwei Wirklichkeitskonstrukten zu tun, die schlecht zueinander passen:

In der Wirklichkeit von Herrn B. war die Mitteilung weiterer Ideen durch den Chef eine Kritik an seinen Ideen. Das auch noch verbunden mit dem nicht ausgesprochenen Auftrag, diese Ideen mit aufzunehmen, um am Ende alle ausgearbeiteten Ideen gegeneinander abzuwägen. Das hatte für Herrn B. zur Folge, dass sein Selbstwert angeknackst war und er viel Zeit und Energie aufwenden musste, um die diversen Ideen entscheidungsreif vortragen und gegenüberstellen zu können.

In der Wirklichkeit des Chefs waren seine Vorschläge Ergänzungen, die noch einmal geprüft und gegen die bereits ausgearbeiteten Ideen abgewogen werden sollten. Er wollte dann eine Begründung haben, warum welche Idee ausgewählt wurde, aber er wollte seinem Mitarbeiter dabei auch die Entscheidung darüber überlassen. Damit wollte er ihm gleichzeitig auch das Entscheidungsrisiko übertragen, wenn die Idee in der konkreten Umsetzung und von den Ergebnissen her sich als eher ungünstig herausstellen sollte.

Wir denken, wir wissen, was der andere versteht

Die beiden Wirklichkeitskonstrukte sind nicht expliziert worden, die darin enthaltenen Annahmen blieben implizit. Beide sind davon ausgegangen, dass für den jeweils anderen klar ist, was gemeint ist. Daran ist Herr B. verzweifelt und hat sich gnadenlos überarbeitet. Dabei ging seine psychische Kraft verloren, weil die Deutung der Vorschläge des Chefs als Kritik, auf ein eigenes inneres Thema bei ihm traf, das mit seinem Vater zu tun hatte, der ihn regelmäßig be- und abgewertet hatte. Davor hatte er letztlich Angst. Der Chef wollte eigentlich keine Angst machen, sondern Anregungen liefern. In seiner Welt war das klar. Dass das jemand anders verstehen könnte, hatte er nicht auf dem Schirm.

Kommunikationsprobleme

Mit Abstand betrachtet, liegt hier ein Kommunikationsproblem vor, das die Voraussetzungen, unter denen die jeweiligen Aussagen und Handlungen zu verstehen sind, nicht bewusst waren und von daher nicht kommuniziert werden konnten. Bei Herrn B. gab es einen älteren inneren Konflikt, der mit der (Nicht)Anerkennung durch den Vater zu tun hatte. Dieser wurde durch das Verhalten des Chefs aktualisiert. Und vor diesem aktualisierten alten Konflikt wurde die Kommunikation zwischen Chef und Herrn B. konfliktträchtig.

Konzept der Wirklichkeitskonstrukte

Das Konzept der Wirklichkeitskonstrukte aus dem systemischen Arbeiten ist hier in großem Maße hilfreich. Hier stellen wir uns die Frage: „In welcher Welt lebt unser Gegenüber?“ „Wie versteht er mein Verhalten vor dem Hintergrund dieser seiner Welt?“ Denn jeder Mensch hat aufgrund seiner persönlichen Entwicklung Bedeutungshorizonte geschaffen, die ihn ausmachen. Von da aus tritt er in Kontakt mit anderen Menschen, die ihre eigenen Bedeutungshorizonte mitbringen und vor diesen kann die Bedeutung von Aussagen oder Handlungen ganz anders oder sogar konträr sein, wie wir im obigen Beispiel gesehen haben.

Um zu verstehen, was ein anderer versteht, müssen wir dessen Welt ein Stück weit kennenlernen; denn die Bedeutung entsteht in der Verarbeitung des von mir Gesagten in der Welt meines Gegenübers. Gunther Schmidt hat öfter folgende Anekdote berichtet: Er habe Heinz von Foerster nach einem Vortrag gefragt, was er an einer bestimmten Stelle habe sagen wollen. Dieser habe dann geantwortet: Das wisse er nicht, das könne nur er selbst, also Gunther Schmidt wissen.

Die Botschaft entsteht im Kopf

Heinz von Foerster gehört zu den radikalen philosophischen Konstruktivisten im Bereich der Erkenntnistheorie, die aus der systemischen Theorie hervorgegangen sind. In deren radikaler Perspektive entsteht die Botschaft nur im Gehirn des Hörers oder Betrachters. Nur der kann die Bedeutung wissen, die er meinen Aussagen oder Handlungen gegeben hat. In dieser Theorie ist es eher eingeschränkt möglich, dass wir uns gegenseitig verstehen. Und in der Tat geht da viel schief! Besonders wenn wir den Voraussetzungen und Wirklichkeitskonstrukten unseres Gegenübers ausgesetzt sind, aber nicht die Möglichkeit oder Fähigkeit zur Verfügung haben, diese zu dechiffrieren.

Nutzung der Wirklichkeitskonstrukte im Alltag

Insofern ist das Konzept der Wirklichkeitskonstrukte ein zentrales im systemischen Arbeiten. Auch wenn das in der Theorie kompliziert klingt, so machen wir das, was oben beschrieben wurde, schon ständig; denn sonst müsste in der Kommunikation wesentlich mehr schief gehen, als es tatsächlich der Fall ist. Wir beziehen unbewusst diese Ebene immer wieder mit ein, besonders bei Menschen, die wir schon länger kennen. Wir sagen uns gelegentlich: „Das ist bei dem immer so“. Zwar würden wir systemisch das „immer“ nicht benutzen, dennoch ist es umgangssprachlich eine Hilfe für das gegenseitige Verstehen. Ausnahmen davon bestätigen die Regel, wie ich zumindest noch in der Schule gelernt habe.

Diese und andere systemische Tools können sowohl theoretisch als auch praktisch in der Ausbildung zum Systemischen Coach und Systemischen Supervisor/in gelernt werden, die wir im Dezember am SynTraum-Institut beginnen. Wen das interessiert, bitte schreibt uns oder ruft uns an. Wir machen gern einen Termin zum Kennenlernen aus.

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