Ein Kind steht vor einem Stier

Die Angst als Ratgeber


Wer sagt eigentlich, dass man Angst ausschalten muss, wenn es um schwierige Entscheidungen geht oder gar um Krisen, die unser Handeln erfordern? Wir sollten einen kühlen Kopf bewahren, heißt es. Ist damit aber auch gemeint, keine Gefühle haben zu sollen? So ist die landläufige Meinung.

Emotionen helfen zu entscheiden

Aus psychologischer Sicht liegt hier eine Verwechslung vor. Gefühle zu haben, ist für jede Entscheidungssituation wichtig, ohne sie könnten wir keine tragenden Entscheidungen treffen, denn alle Entscheidungen betreffen die Zukunft und implizieren verschiedene Annahmen über die Zukunft. Selbst wenn wir von allen Variablen wissen könnten, wäre eine rein rationale Entscheidung fast unmöglich, weil zu viele Parameter gegeneinander abgewogen werden müssten. Wenn wir unsere Gefühle mitbenutzen, grenzen wir verschiedene Aspekte aus emotionalen Gründen aus. Das macht das Entscheiden einfacher und gibt uns als Entscheidern ein besseres Gefühl für die Entscheidung im Sinne einer höheren Stimmigkeit.

Angst haben oder von ihr bestimmt sein?

So viel allgemein zu Gefühlen bei der Entscheidungsfindung. In Zeiten wie diesen sind wir, aber auch alle Politiker gut beraten, wenn sie ihre Gefühle nicht draußen vor der Tür stehen lassen. Wir alle reagieren auf diesen Krieg in der Ukraine mit Angst. Normalerweise unterscheiden wir nicht zwischen 1. „Angst haben“ und 2. „von der Angst bestimmt sein“. Diese Unterscheidung ist aber wesentlich.

  1. In diesem Fall registriere ich das Gefühl der Angst in mir. Dieses Gefühl zeigt mir eine Gefahr an, die ich mit dem bloßen Verstand vielleicht gar nicht erkennen würde oder die Gefährlichkeit anders einstufen würde. Ich kann dieses Gefühl dann nutzen für alle weiteren Entscheidungen, die ich in Bezug auf eine gefährliche Situation treffen muss oder sollte. Natürlich können dabei Fehler passieren, weil Menschen unterschiedlich sensibel auf Gefahrensignale reagieren.  Ein Abgleich mit kognitiv nutzbaren Informationen kann die Gefahreneinschätzung nachträglich noch modifizieren.
  2. In diesem Fall bin ich der Angst ausgesetzt. Nicht ich habe die Angst, sondern sie hat mich. Wir kennen das von verschiedenen Panikreaktionen her, aber auch von Reaktionen bei Menschen, die Traumata erlebt haben. Hier sind die Möglichkeiten der Selbststeuerung nicht mehr vorhanden und die des kognitiven Verarbeitens ebenfalls nicht mehr. Diese Reaktion ist insofern sinnvoll, weil ich unmittelbar etwas tun kann, mich so auch abreagieren, aber eben auch das Falsche tun kann, was die Situation nur noch verschlimmert. Das könnte also auch dazu führen, dass ich aus lauter Panik jemanden angreife, der mir körperlich überlegen ist. Oder ich fliehe in irgendeine Richtung, die die Lage nur verschlimmert, weil ich z.B. auf einen Abhang zulaufe, ohne es zu bemerken. Hierher gehört auch das Reaktionsmuster der Erstarrung. Auch in diesem Zustand bin ich völlig ausgeliefert und handlungsunfähig bis sich ein besserer Moment fürs Handeln einstellt.

Mit den unter Punkt 2 subsumierten Aspekten haben wir in der Psychotherapie häufig zu tun – gerade auch vermehrt ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, wie ich schon in einem früheren Artikel dargestellt habe. Hier wirkt sich die Angst häufig behindernd für die Betroffenen aus. Sie brauchen Hilfe bei der Bewältigung ihrer Reaktionen und der ihnen zugrundliegenden Erfahrungen.

Emotionen für politisches Handeln nutzen

Die unter Punkt 1 genannten Aspekte der Angst sind eher die förderlichen und hilfreichen. Reinhold Messner hat einmal in einem Interview gesagt, er sei ein Experte in Angst, deshalb sei ihm so relativ wenig  passiert. Ihm hat es geholfen, auf seine Angst zu hören und sich keinem zu großen Risiko auszusetzen. Ich halte es für sinnvoll, dass Politiker in der jetzigen Kriegssituation ihre spontane emotionale Reaktion für ihr politisches  Handeln nutzen. Sie wägen genauer ab und das ist auch ihre Aufgabe. Vielleicht sind sie bei manchen Entscheidungen zu zögerlich bzw. dauern sie zu lange.[*] Aber, bitte schön, wer kann denn jetzt wissen, was sich hinterher als sinnvoll herausstellen wird. Dass Herr Selenskij Druck auf westliche Politiker ausübt, kann ich aus seiner Sicht gut verstehen. Er fühlt sich moralisch im Recht. Woher wissen wir aber, dass es jetzt richtig ist, auf jeden Fall die Ukraine in den Stand zu setzen, dem russischen Militär standzuhalten. Welche Folgen wird das haben für die Menschen in der Ukraine? Wie viel Leid müssen sie noch erleben?

Wir wissen es nicht. Wir wissen aber auch nicht, ob das Leid kleiner wäre, wenn die Ukraine sich dem Aggressor ergeben würde.[**] Das einzige, was wir sicher von den vergangenen Kriegen wissen, dass es sehr lange Zeit dauern wird, bis das durch den Krieg entstandene Leid von einer Nachkriegsgesellschaft aufgearbeitet werden kann und in das Leben der Menschen und der Gesellschaft integriert wird.

Die Angst wird weitergegeben

Angst kann an andere Menschen weitergegeben werden, z.B. an die Nachgeborenen (s. meinen Artikel dazu). Das passiert vor allem dann, wenn die Betroffenen ihr Leid nicht selber verarbeiten können, weil das für sie nicht oder noch nicht verarbeitbar wäre, wie das häufig in unserer Vätergeneration der Fall war. Hier wurde die Angst aus der Kommunikation ausgeschlossen, so dass sie im Untergrund weiter gewirkt hat und für die Nachkommen spürbar werden konnte, auch wenn die Betroffenen es selbst kaum gemerkt haben. Das erleben wir regelmäßig in Familienaufstellungen. Doch dazu ein anderes Mal.


[*] Hier sei auch verwiesen auf den Artikel von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung vom 28.4. Habermas verteidigt in dem Artikel die abwägende Haltung des Bundeskanzlers und dessen weitgehende Zurückhaltung mit Informationen für die Öffentlichkeit. Die Presse scheint immer wieder über Herrn Scholz herzufallen und Zwietracht zwischen Politikern säen zu wollen. Die Presse muss für Information und die zugehörigen Hintergründe sorgen. Dadurch entsteht an dieser Stelle eine Spannung im System, die auch sinnvoll ist.

[**] Kurz nachdem ich diesen Artikel entworfen hatte, ist zuerst der offene Brief von Alice Schwarzer und ihren Unterzeichnern erschienen, ein paar Tage später der Gegenbrief. Diese Diskussion scheint die Menschen zu bewegen und es ist gut, wenn wir dazu einen Diskurs in unserem Land führen.

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