Ist Härte und Unerbittlichkeit wieder angesagt?


„Ich kann seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs schlecht schlafen. Mir geht das Leid der Menschen sehr zu Herzen und ich muss ganz viel an meine Mutter denken. Meine Mutter wurde 1944 von Russen aus dem Banat in den Donbass verschleppt. Das ist das Einzige, was ich darüber weiß. Sie wollte nie darüber sprechen. Ich vermute, dass ihre Härte gegen sich und andere in der Zeit entstanden ist. Ich habe immer gespürt und geahnt, wie schlimm es dort für sie gewesen sein muss.

Als sie älter wurde, wurde sie sehr anhänglich mir gegenüber. Sie brauchte mich und ich fühlte mich oft als wäre ich ihre Mutter, die ihre Tochter tröstet. Dabei hat sie mir auch viel darüber verraten, wie unmöglich die Männer waren. Auch das hat meine Ahnungen verstärkt. Heute taucht das Bild meiner Mutter in meinen Träumen auf, wie sie unterdrückt und erniedrigt wird. 1946 hat sie es geschafft, aus dem Donbass zu fliehen. Alleine! Sie kam dann gleich nach Deutschland. Dort hat sie einen Mann aus dem Heimat-Dorf getroffen, den sie gleich geheiratet hat. Ich war ihr erstes Kind.“

Übernommene Emotionen der Kriegskindern und Kriegsenkeln

Solche Geschichten höre ich zurzeit öfter. Die Patienten, die diese Geschichten erzählen, sind in den 60ern. Sie haben viel von den Traumatisierungen der Eltern aufgesogen, oder wie wir sagen: mit der Muttermilch. In den meisten Fällen gab es keine Erzählungen über das erlebte Grauen der Eltern, es war aber atmosphärisch spürbar. Viele dieser Kinder, die heute selbst Eltern und Großeltern sind, tragen diese traumatische Last ihrer eigenen Eltern in sich, durch das Kriegsgeschehen in der Ukraine reaktiviert wird. Es sind im Wesentlichen die Kriegserfahrungen aus dem Osten, die das fremd übernommene Leiden[*] prägen.

Als die Betroffenen Kinder waren, waren sie sehr offen für die unterschwelligen Emotionen der Eltern. Sie haben diese in vielen Fällen weiter in sich getragen, weil sie so dem jeweiligen Elternteil nah sein konnten, eine Nähe, die für die Eltern auf andere Weise nur schwer zuzulassen war. Im obigen Beispiel konnte die Mutter ihre eigenen Bedürfnisse nach Nähe erst zulassen, als sie selbst schon älter war, was dann für die Tochter aber auch eine Überforderung darstellte.

Verdrängen und „Ungeschehen machen“ als Überlebensstrategie

Wir haben es mit einer traumatisierten Generation zu tun. Väter, die mit 18 in den Krieg zogen oder die zu Kriegsende als Kindersoldaten, könnte man sagen, rekrutiert wurden und deren psychische Belange nicht wahrgenommen wurden, weil die meisten Menschen gegen all das Leid bereits abgestumpft waren. Niemand hatte mehr die Kapazitäten, das Leid an sich heranzulassen. Für solche Situationen sind Abwehrmechanismen wie Verschieben, Verdrängen, Ungeschehen-Machen, Abspalten, etc. Gold wert. Diese sorgen dafür, dass wir psychisch überleben können, obwohl das eigentlich kaum möglich erscheint. Das Reden darüber würde die alte Last wieder an die Oberfläche bringen, die Abwehrprozesse würden versagen und die Betroffenen retraumatisiert werden.

Familienaufstellungen und ROMPC zur Entlastung der nachfolgenden Generation

Bleibt diese alte Last aber unausgedrückt, dann gibt sich das Leid quasi subkutan weiter an Kinder und Kindeskinder. Irgendjemand muss die Sprachlosigkeit beenden, um das Geschehen doch noch der Verarbeitung zuzuführen. Erst dann kann wieder Ruhe eintreten und das Weitergeben der psychischen Belastungen unterbrochen werden. Diese Arbeit haben wir in Einzeltherapien und in Familienaufstellungen schon oft durchgeführt. Im ROMPC haben wir eine spezielle Technik zur Bearbeitung fremder übernommener Traumatisierungen und [**]. In den Familienaufstellungen wird die Bearbeitung mit Hilfe der Repräsentanten psychodramatisch angeleitet. Eine Entlastung der Nachfolgenden, die selbst ihr Familien- oder inneres System aufstellen, ist in den allermeisten Fällen die Folge.

Mut und Stärke, sich dem zu stellen, was belastet

„Mein Vater wurde mit 15 Jahren bei Kriegsende eingezogen. Er kam in englische Gefangenschaft. Er war sicher traumatisiert, als er zurückkam: nachts wachte er schreiend auf, er konnte sich nicht richtig konzentrieren, war fahrig, schlug plötzlich um sich, scheinbar ohne Grund – so schildert ihn meine Mutter. Er konnte keiner geregelten Arbeit nachgehen. Ich habe ihn immer still erlebt, höchst wortkarg. Gleichzeitig ging von ihm eine tiefe Traurigkeit aus, obwohl ich ihn nie habe weinen sehen. Vor seinen plötzlichen Wutausbrüchen habe ich Angst gehabt und habe mich lieber mit dem traurigen, kaum allein lebensfähigen Mann identifiziert und es fiel mir sehr schwer, das zu überwinden.“

Die psychischen Belastungen zu spüren, gilt weithin als Schwäche. Aus unserer Sicht ist der Mut, sich dem zu stellen, als Stärke anzusehen, gibt es doch der Seele die Möglichkeit, sich durch das Zulassen von Gefühlen und Mitgefühl zu erneuern.

Wenn Härte regiert – Topos des „starken Mannes“

Sozial stehen wir möglicherweise wieder an einem Punkt, an dem die sog. Härte wieder salonfähig wird. Die Autokraten dieser Welt gerieren sich als die neuen Patriarchen, denen ich als Landeskind nur vertrauen muss, dann wird alles gut. So die Rede der Autokraten. Diese inszenieren sich als die wahren Helden. Und wie überall im Krieg entwickeln sich auch Helden unter den Soldaten und sonstigen Kämpfern. Damit hält eine ganze Nation ihre Kampfkraft hoch. Die Verteidigungsbereitschaft ist sehr hoch ausgebildet – genauso wie der Mut, der von den Menschen dort eingesetzt wird. Das ist bewundernswert einerseits. Andererseits ist der Topos des „starken Mannes“ zwangsläufig auf dem Vormarsch: der Mann, der den Barbaren trotzt. Das Bild vom harten Mann, der eigenes und fremdes Leid wegsteckt und erfolgreich ist im Erobern und Verteidigen, auch wenn es viele Menschen das Leben kostet.

Wirklichkeitskonstrukte und ihr Wahrheitsgehalt

Schließlich ist mein Kampf ja gerechtfertigt durch das Leid, was „uns“ die anderen zufügen. Die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion „die anderen sind die Aggressoren“ ist dabei zentral. In meinem „Narrativ“[***] ist es die Wahrheit. Wenn ich das, was ich glaube, als Wirklichkeitskonstrukt sehen kann, habe ich ja schon ein Stück Distanz gefunden. Wenn ich das Konstrukt für die Wahrheit halte, dann bin ich mit dem Konstrukt identifiziert, habe keinen Abstand mehr dazu. Genau das passiert im Krieg, ist logisch und nachvollziehbar.

Dennoch ist es mindestens genauso wichtig, die Vorgänge mit Abstand zu betrachten und zu fragen: Ist es notwendig, die eigene Wehrhaftigkeit aufzugeben, wenn ich mir eigene Gefühle und Mitfühlen gestatte? Brauchen wir nicht beides? Die Bereitschaft zu kämpfen sowie eigene Gefühle dabei zu haben und Mitgefühl für andere? Muss auch in diesem Krieg Trauer mit Wut und Rache beantwortet werden? Ist Vergewaltigung eine zwangsläufige Folge des Krieges, in der sich die männliche Gewalt in Form von Erniedrigung der Frauen zeigt?[****] Auch wenn das Töten sich scheinbar hormonell in sexualisierter Gewalt zum Ausdruck bringt, ist es doch keine Zwangsläufigkeit, der wir ausgeliefert sind. Wenn wir unser Mitgefühl für andere behalten, können wir diese sexualisierte Gewalt nicht ausüben.

Welche Art von neuem „Heldenbild“ sich in diesen Kriegszeiten ausbilden wird, ist genauso wenig abzusehen wie die Antwort auf die Frage, was für ein „Heldentum“ wir wirklich brauchen.


[*] S. hierzu meinen Artikel in der Zeitschrift Psychosozial, Jahrgang 43, Nr. 161, S. 74 ff. In dem Sammelband „Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie“ von Luise Reddemann (2018) gibt es eine ganze Reihe von Geschichten, die das fremd übernommene Leid belegen.

[**] S. hierzu Weil/Erfurt-Weil, „Selbstwirksamkeit und Performance“ (2010), S. 171 ff. Zu diesem Thema gibt es einen Workshop am SynTraum-Institut am 27. und 28. Januar 2023

[***] Dieser Begriff wird inzwischen trivialisiert und ist schon fast in den Alltags-Sprachgebrauch eingegangen. Ursprünglich kommt er aus der narrativen Strömung der systemischen Therapie.

[****] S, hierzu den Artikel in der „Süddeutschen“ vom 20.5., in dem die psychologischen Hintergründe dieses Verhaltens von Männern herausgearbeitet werden: https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-ukraine-vergewaltigung-1.5587829?reduced=true

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*