Der Titel ist bewusst angelehnt an den Titel des Romans von Dostojewski „Krieg und Frieden“
Ich gehöre zu der Generation, die mit der Friedensbewegung in den 60er Jahren groß geworden ist. Über die komplette Zeit meiner Jugend hinweg war einer der Slogans: „Make love, not war!“ Es war die Umbruchzeit, die vom Vietnamkrieg und seiner Gräuel sowie von der sogenannten „sexuellen Revolution“ geprägt war, denn „make love“ war auch im Sinne einer sexuellen Befreiung gedacht, auch wenn diese für manche zu einer neuen Norm wurde, wie sich hinterher herausstellte.
Möglicher Faschismus in den 60er Jahren?
Gleichzeitig war es der Einstieg in die Auseinandersetzung mit unseren Müttern und Vätern über die Zeit des Faschismus. Ich weiß noch, wie wir auf einer Klassenfahrt auf einem Platz in Nürnberg standen und über die Notstandsgesetze diskutiert haben, die der Regierung wieder mehr Verfügungen in die Hand geben sollten, was wir damals als erste Anzeichen eines neuen möglichen Faschismus verstanden. Die Notstandsgesetze erinnerten zu sehr an die Notverordnungen, mit denen Hitler die Weimarer Republik in einen totalitären Staat umgebaut hatte.
Maxime der damaligen Bundesrepublik: „Nie wieder Krieg!“
Für die damalige Bundesrepublik war das die – nach der Gründung der Bundeswehr – zweite Abwendung von der Maxime „Nie wieder Krieg“ und schon gar nicht von deutschem Boden ausgehend. Natürlich muss man diese Aktionen als Teil der gegenseitigen Abschreckung zwischen West- und Ostblock verstehen. Damals konnten wir nur dagegen sein, weil wir unseren Vätern nicht vertraut haben, dass sie nie wieder Krieg wollten.
Zwiespältige Gefühle unserer Väter zum Hitler-Deutschland
Wenn bei uns zu Hause bei Festen Männer zusammenkamen, redeten sie oft über den Krieg und fast immer kam das Gespräch auf das Thema: Wie hätte Deutschland den Krieg gewinnen können? Für mich war das ein Desaster. Ich habe mich mit diesen Vätern angelegt und sie gefragt, was denn wohl heute mit Deutschland wäre, wenn Hitler oder einer seiner Nachkömmlinge Deutschland heute regieren würde? Da konnten sie nur einlenken in irgendwelchen „ja …, aber“-Formulierungen. Erst viel später verstand ich, dass sie damals in den 30er Jahren kaum älter waren als ich zu jenem Zeitpunkt, dass sie um ihre Jugend betrogen waren, dass sie die Niederlage Hitler-Deutschlands auch irgendwie als persönliche Niederlage verbucht hatten. Einige von ihnen waren angesteckt von der Euphorie faschistischer Hassprediger und Glaubensfanatiker. Mein Vater erzählte immer wieder gern, als er beim Reichsparteitag 1938 dabei war. Damals war er Abgesandter seiner Einheit vom Arbeitsdienst. Ihnen allen waren Spaten überreicht worden, die sie für diesen Anlass blank geputzt hatten, so dass man sich in ihnen spiegeln konnte. Das war auch das einzige Mal, dass er Hitler persönlich, wenn auch aus der Ferne, gesehen hat. Der Führer rief dann u.a.: „Heil meine Arbeitsmänner!“ und alle antworteten im Chor: „Heil mein Führer!“ Es war meinem Vater immer anzumerken, wie sehr ihn dieser Moment gerührt hat, auch wenn er in späteren Jahren durchaus erkennen konnte, dass Hitler einen wahnsinnigen Angriffs- und Vernichtungskrieg begonnen hatte. Seine sog. Leistung, nämlich den Menschen Arbeit gegeben zu haben und z.B. Autobahnen habe bauen lassen, hat schon damals verwischt, dass auf diese Weise die Armee aufgerüstet werden sollte und mit den Autobahnen weitläufige Aufmarschrouten für schweres Kriegsgerät erstellt wurden. Zusammen mit der Gleichschaltung der Presse hat hier eine lang angelegte Vorbereitung für den späteren Angriffskrieg begonnen.
Personalisierung des Faschismus
Gegen Hitler hat es ja viele Anschläge und Anschlagsversuche gegeben, die alle vereitelt wurden. Sie zielten damals auf die Person des „Führers“. Das hat aber nicht berücksichtigt, dass es hinter dem Führer ausgeprägte, beispielsweise Kapitalinteressen gegeben hat, die teilweise glaubten, Hitler für die eigenen Zwecke benutzen zu können. All diese Sichtweisen waren sehr personalisiert, als hätte ein Geisteskranker sich das ausgedacht und alle wären seine Opfer gewesen. In meiner Jugend tauchte nie der Begriff Faschismus auf, der die Herrschaftsform unabhängig von der Person beschreibt und der deutlich macht, dass diese Herrschaftsform die ganze Gesellschaft durchzieht – mehr oder weniger.
Gegengewicht zur Vätergeneration
Mir ist heute klar, dass wir – die nächste Generation nach dem Krieg, also die Nachgeborenen [x] – pazifistisch werden mussten, um ein Gegengewicht gegen die Vätergeneration zu bilden, die so sehr durch Krieg sozialisiert war. Ich finde auch nach wie vor, dass jeder Euro, der in Waffen statt z.B. in Bildung investiert wird, verloren ist. Dennoch frage ich mich heute, ob eine pazifistische Bewegung den Faschismus hätte stoppen können. Ich muss sagen, ich glaube nicht, dass das hätte gelingen können. Gut, es gab ein Beispiel in der deutschen Geschichte, bei dem es anders war, nämlich während der Besetzung des Ruhrgebiets durch die französische Armee während der Inflation der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts mit ausgedehnten Streikmaßnahmen. Dahinter brauchte es eine Organisation, die es damals noch gab. Doch alle Organisationen, die so etwas hätten machen können, sind nach 1933 zerschlagen worden. Das hätte also unter den Faschisten nicht gelingen können.
Zurück zum aktuellen Geschehen
Parallel dazu können wir heute die Frage stellen, ob Putin [xx] mit friedlichen Mitteln zu stoppen sein könnte. Es ist leicht, ihn und sein System (wir könnten es auch kryptofaschistisch nennen) moralisch ins Unrecht zu setzen. Was ist aber, wenn ihm das wurscht ist? Ganz im Gegenteil, wenn er sich damit sogar brüstet und uns Westler als Weicheier hinstellt, über die er sich locker erheben kann und die ihm nicht wirklich etwas entgegen zu setzen haben? Denn das, was Wirklichkeit schafft, scheint in seinen Augen Macht und Gewalt zu sein. Was tust du also z.B. in deiner Sitzblockade, wenn der Panzer, der auf dich zurollt, dich auch tatsächlich überrollt? Und auch nicht so schnell bereit ist, damit aufzuhören?
Fragen über Fragen…
Im Moment sieht es so aus, dass wir uns eine erneute Militarisierung von Putin aufdrücken lassen. Haben wir eine andere Wahl? Können wir dieses Schwungrad auch wieder zurückdrehen, wenn die Gefahr solcher Gewaltexzesse nicht mehr existiert oder wenigstens weniger geworden ist? Gibt es da nicht die Gefahr, dass sich das verselbständigt? Natürlich kann sich das verselbständigen, wie es das ja schon so oft in der Geschichte der Menschheit getan hat. Wie wachsam müssen wir bleiben? Vor allem, wenn die äußere Gefahr, also der Krieg, vorbei zu sein scheint.
Haben wir zu lange weggeschaut?
Im autokratisch-monopolistischen Kapitalismus russischer Prägung, der sich orthodox-religiös ummantelt, gibt es keine Machtkontrolle mehr. Die Opposition wurde ausgeschaltet, ist im Gefängnis, im Straflager oder wurde ermordet entweder innerhalb Russlands oder sogar innerhalb von Westeuropa. Das System schreckt also nicht zurück vor gewaltsamen Übergriffen außerhalb des eigenen Territoriums. Diese Macht wird auch noch durch ein riesiges Arsenal von Atomwaffen taktischer und strategischer Art gestützt. Da ist sie also, die Bestätigung, dass ein Waffenarsenal in den Händen skrupelloser Machtpolitiker desaströs wirkt, das, wogegen wir bei den Notstandsgesetzen und bei der Stationierung der Mittelstreckenraketen in Europa damals protestieren wollten. Da ist er wieder, der berechtigte Pazifismus, der für die Abschaffung solcher Waffenarsenale eintritt oder sie zumindest einer internationalen Kontrolle unterwirft, die über die Zeit und nicht zuletzt durch die Kündigung von Vereinbarungen durch Trump unwirksam geworden ist. Der beste Schutz vor der ausrottenden Wirkung von Atomwaffen, die der Erde ein schnelleres Ende verschaffen können, als Umweltzerstörung dazu in der Lage ist, ist deren vollkommene Verbannung aus jedweder Waffenkammer. Es ist schon schlimm genug, dass wir die Anzahl konventioneller Waffen wohl wieder erhöhen müssen, weil Menschen wie Putin – und damit ist er nicht allein – unsere vermeintliche Schwäche ausnutzen oder auf die Probe stellen wollen. Allzu lange wollten wir nicht wirklich sehen, welche Folgen die politischen Veränderungen in Russland haben könnten. Wir haben um unser selbst und unserem Wohlstand willen lieber weggeschaut aus der Haltung heraus: Wird schon nicht so schlimm werden. Das war unsere eigentliche Schwäche, die nun geahndet wird, die uns in die eingeschränkte Wehrhaftigkeit versetzt hat.
Eine neue Zeit hat begonnen!
Wir können den alten Pazifismus nicht mehr praktizieren. Der war damals ein Kampfbegriff gegen das Alte und Überkommene und hat dazu geführt, dass wir uns mehr über menschliche Werte definiert haben, die auch und gerade das gesellschaftliche Miteinander betrafen, den gerechten Austausch zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd im Sinne der Chancengleichheit. Das alles ist nach wie vor bedeutsam. Und doch scheint wohl eine neue Zeit begonnen zu haben, in der diese Werte vielleicht mit einer neuen Art von Stärke vertreten werden müssen.
Bildquelle: Vom ersten deutschen Ostermarsch zur Friedensbewegung | © NDR.de – Geschichte – Chronologie
[x] Hier nehme ich Bezug auf dass Gedicht von Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“. Da heißt es z.B.:
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid. (…)
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
[xx] Ein Artikel in „Die Zeit“ von Heinrich August Winkler beschäftigt sich mit Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Putin und Hitler. Quelle: Die Zeit No. 11/2022, S. 8