Stärken stärken

Stärken stärken


Psychotherapie stürzt sich in der Regel auf die Schwächen der Menschen. Diese werden in umfangreichen Symptomlisten zusammengefasst und als Diagnosen den Menschen zugeordnet. D.h. Diagnostik ist immer auf ein Defizit orientiert.

Demgegenüber sind unsere Stärken und Talente Fähigkeiten, auf die wir aufbauen und auf die wir uns in der Regel auch verlassen können, ohne viel darüber nachzudenken. Diese Überlegungen haben einige Psychologen und Psychiater in den 90er Jahren veranlasst, vermehrt Stärken-Forschung zu betreiben

Was sind Stärken?

Stärken sind persönliche Fähigkeiten und Talente, die uns dabei helfen, unser Leben zu bewältigen. Stärken können sein: Kreative Gedanken, Fertigkeiten und Verhaltensweisen, die uns helfen, Herausforderung zu bewältigen.

Die meisten Menschen können ihre Stärken nicht genau benennen. Das hat folgende Gründe:

  1. Unsere Stärken scheinen uns so selbstverständlich zu sein, dass wir sie nur schwer als Stärken wahrnehmen.
  2. Kulturell konzentrieren wir uns eher auf unsere Schwächen und Fehler. Die meisten werden den Spruch kennen: Nichts gesagt, ist gelobt genug.
  3. Deshalb werden Stärken wenig thematisiert, so dass es uns schwer fällt zu erkennen, was eine Stärke oder ein Talent darstellt.
  4. Neurobiologisch sind Schwächen, Ängste und Gefahren besser verdrahtet. D.h. die Amygdala, unser Gefahrenmelder, sorgt in erster Linie fürs Überleben und deshalb werden Ängste, Gefahren und Schwächen mehr in den Mittelpunkt gerückt, weil von denen eine Gefahr fürs Überleben ausgehen könnte. (s. zu den ersten 3 Gründen auch: Keller 2017, S. 1)

„Stärken sind Muster des Denkens, Handelns und Fühlens,
die uns – wenn wir sie praktizieren – energetisieren, motivieren und anregen.
Sie erlauben uns, uns auf einem optimalen Leistungslevel zu bewegen.“

(Biswas-Diener 2010, S. 21)

Die bereits oben zitierte Frau Keller ordnet Stärken in den Bereich von Flow [x] ein, d.h. wenn wir in einen Flow geraten, dann gelingt uns das am einfachsten in Verbindung mit unseren Stärken. Demgegenüber stellen Talente angeborene Fähigkeiten dar wie z.B. ein absolutes Gehör, die entwickelt werden müssen. Wenn also jemand mit diesem Talent mit Musik nicht in Berührung kommt, wird sich dieses Talent nicht so leicht entfalten können.

Nutzen von Stärken

  • „Wir fühlen uns vitaler und lebendiger
  • Wir nehmen das, was wir tun, als sinnerfüllter wahr
  • Wir können uns besser konzentrieren
  • Wir bringen bessere Leistung
  • Wir können besser mit Rückschlägen umgehen (wir sind resilienter)
  • Unsere Beziehungsqualität verbessert sich
  • Wir lassen uns gerne auf Neues ein“ (Keller 1027, S. 2)

Bleibt die Frage, wie wir unsere Stärken erkennen können. Dazu gibt es folgende Wege:

  1. Selbstreflexion:
  2. Wann habe ich Besonderes geleistet und welche Fähigkeiten haben mir dabei geholfen?
  3. Was ist mir in der Schule oder auch im Studium besonders leicht gefallen? Was ging mir leicht von der Hand? Was hat mir am meisten Freude bereitet?
  4. Rückmeldung anderer: Welche besonderen Fähigkeiten sehen andere bei mir?
  5. Tests

Da wir – wie oben dargestellt – unsere Stärken oft selbst nicht einschätzen können, weil sie uns zu selbstverständlich erscheinen, ist es sinnvoll, andere zu befragen, welche Stärken sie in uns sehen. Meistens können Freunde und/oder Kollegen ganz gut Rückmeldung dazu geben. Wir sollten uns also nicht scheuen, danach zu fragen.

Stärken sind abhängig vom Kontext

Bei der Bewertung, ob etwas eine Stärke oder eine Schwäche darstellt, sind immer Kontextfaktoren zu berücksichtigen: Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist in sozialen Beziehungen hilfreich (auch in sozialen Berufen), bei der Berechnung mathematischer Gleichungen allerdings weniger hilfreich, wenn ich das Ergebnis von meinen Empathiefähigkeiten abhängig mache. Stärken bzw. Schwächen können auch zu ausgeprägt eingesetzt werden in bestimmten Situationen, wodurch sie in ihrer Wirksamkeit begrenzt werden: In diesem Fall wäre die Empathiefähigkeit zu stark ausgeprägt.

Wenn ich diese aber in sozialen Situationen zurückhalte, kommt sie in einem adäquaten Anwendungskontext nicht zur Geltung. Empathiefähigkeit kann aber auch in sozialen Situationen zu stark akzentuiert sein, wenn ich z.B. stärker wahrnehme, was ein anderer fühlt, als was ich selber fühle. Dann gehe ich über mich hinweg zugunsten anderer.

Systemisch betrachtet sind Stärken immer kontextsensitiv. Deshalb müssen wir auch situativ unsere Stärken anpassen und manchmal wird unsere Schwäche zur Stärke und umgekehrt. Das zeigt ganz eindrucksvoll die folgende Geschichte:

Der chinesische Bauer

In einem Dorf in China, nicht ganz klein, aber auch nicht groß, lebte ein Bauer – nicht arm, aber auch nicht reich, nicht sehr alt, aber auch nicht mehr jung. Der hatte ein Pferd. Und weil er der einzige Bauer im Dorf war, der ein Pferd hatte, sagten die Leute im Dorf: „Oh, so ein schönes Pferd, hat der ein Glück!“

Und der Bauer antwortete: „Wer weiß?!“

Eines Tages, eines ganz normalen Tages, keiner weiß weshalb, brach das Pferd des Bauern aus seiner Koppel aus und lief weg. Der Bauer sah es noch davon galoppieren, aber er konnte es nicht mehr einfangen. Am Abend standen die Leute des Dorfes am Zaun der leeren Koppel, manche grinsten ein bisschen schadenfreudig und sagten: „Oh der arme Bauer, jetzt ist sein einziges Pferd weggelaufen. Jetzt hat er kein Pferd mehr, der Arme!“

Der Bauer hörte das wohl und murmelte nur: „Wer weiß?!“

Ein paar Tage später sah man morgens auf der Koppel des Bauern das schöne Pferd, wie es mit einer wilden Stute im Spiel hin und herjagte: Sie war ihm aus den Bergen gefolgt. Groß war der Neid der Nachbarn, die sagten: „Oh, was hat der doch für ein Glück, der Bauer!“

Aber der Bauer sagte nur: „Wer weiß?!“

Eines schönen Tages im Sommer dann stieg der einzige Sohn des Bauern auf das Pferd, um es zu reiten. Schnell war er nicht mehr alleine, das halbe Dorf schaute zu, wie er stolz auf dem schönen Pferd ritt. „Aah, wie hat der es gut!“ Aber plötzlich schreckte das Pferd, bäumte sich auf und der Sohn, der einzige Sohn des Bauern fiel hinunter und brach sich das Bein, in viele kleine Stücke, bis zur Hüfte. Und die Nachbarn schrien auf und sagten: „Oh, der arme Bauer: Sein einziger Sohn! Ob er jemals wieder wird richtig gehen können? So ein Pech!“

Aber der Bauer sagte nur: „Wer weiß?!“

Einige Zeit später schreckte das ganze Dorf aus dem Schlaf, als gegen Morgen ein wildes Getrappel durch die Straßen lief. Die Soldaten des Herrschers kamen in das Dorf geritten und holten alle Jungen und Männer aus dem Bett, um sie mitzunehmen in den Krieg. Der Sohn des Bauern konnte nicht mitgehen. Und so mancher saß daheim und sagte: „Was hat der für ein Glück!“

Aber der Bauer murmelte nur: „Wer weiß?!“

Und die Moral von der Geschicht…

„Wer weiß?!“

(Quelle unbekannt)

Stärken-Tests

Der am besten erforschte Test ist der VIA-Charakterstärken-Test (VIA steht für „value in action“), wurde von Peterson und Seligman entwickelt und kann in folgender Tabelle zusammengefasst werden:

 (Abb. Nach Keller 2017, S. 7)

Der Test ist in unterschiedlichsten Kulturen auf Validität untersucht worden und kann als kulturneutral betrachtet werden nach den vorliegenden Ergebnissen.

Ein leicht erreichbarer und kostenloser Stärken-Test, der auf der Arbeit vom VIA-Test basiert ist der an der Uni Zürich benutzte Persönlichkeitsstärken-Test:  https://www.persoenlichkeitsstaerken.ch/. Der Test ist kostenlos, weil man sich bereit erklärt, die anonymisierten Daten dem Institut zur Verfügung zu stellen. Einfach mal machen, das Ergebnis erhält man gleich online.

Besonders ausgeprägte Stärken

Wenn wir unsere Stärken kennen, dann ist es hilfreich zu wissen, welche besonders stark ausgeprägt sind. Seligman nennt das „Signaturstärken“, die uns in besonderer Weise zur Verfügung stehen. Unsere Fähigkeiten werden dann in einem vierdimensionalen Diagramm angeordnet. Das gibt uns Aufschluss darüber, in welchen Lebensbereichen die Stärken angeordnet sind und wo sie besonders geballt auftauchen. Wenn wir also eine besondere Ausprägung im Herzbereich haben, dann brauchen wir u.U. andere Menschen, die andere Bereiche aus diesem Quadranten abdecken und uns entsprechend ergänzen.

(Keller 2017, S. 46)

Unsere Stärken stärken!

Es ist in jedem Fall hilfreich, sich mit den eigenen Stärken mehr zu befassen, sich also beispielsweise täglich darüber Rechenschaft abzulegen, welche Stärken ich in erster Linie benutzt habe und mit welchem Ergebnis. Dadurch gelangen die Stärken mehr ins Bewusstsein und wir können leichter auf sie zurückgreifen.

Zudem gibt es offenbar eine Reihe von Stärken, die in besonderer Weise Lebenszufriedenheit herbeiführen können: „Die Stärken-Forschung hat herausgefunden, dass Hoffnung, Dankbarkeit, Enthusiasmus, Bindungsfähigkeit und Neugier jene Stärken sind, die besonders hoch mit der Lebenszufriedenheit (Park et al. 2004) und auch mit der Arbeitszufriedenheit (Harzer 2012) korrelieren.“ (Keller 2017, S. 46 f.)

Also nutzt eure Stärken für mehr Lebenszufriedenheit!

Literatur

  • Keller, Theresa, Persönliche Stärken entdecken und trainieren, Wiesbaden (Springer) 2017
  •  Biswas-Diener, Robert, Practicing Positive Psychology Coaching: Assessment, Activities and Strategies for Success. Hoboken (Wiley) 2010
  • Csikszentmihalyi, Mihaly, Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart (Klett-Cotta) 1996
  • Peterson, Christopher/ Seligman, Martin,  Character strength and virtous: A handbook and classification. New York (Oxford Press) 2004

[*] Dieser Begriff geht auf Csikszentmihalyi zurück, der diesen Zustand erstmals wissenschaftlich untersucht hat.

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