Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis Teil 1
Frau P. ist Mitte 40. Sie wirkt gestresst und nervös, kann kaum ruhig sitzen. Sie hadert mit sich, dass sie alles vergesse. Das dürfe doch in ihrem Alter noch nicht sein. Auf die Frage, seit wann sei das bemerke, antwortet sie, das sei ca. vor 3 Monaten aufgetreten. Ich frage weiter nach, was denn um diese Zeit herum passiert sei. Sie erklärt mir, dass es seit dieser Zeit im Geschäft hoch stressig geworden sei, sie habe einen neuen Chef bekommen, der alles anders machen wolle und der immer wieder seine Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit kundtue. Seither schlafe sie auch schlecht. Diese Schilderung reichert sie noch mit vielen Details an.
Stress als Ursache von Vergesslichkeit
Die Vergesslichkeit von Frau P. ist nun gar nicht mehr unverständlich. Deshalb kann ich ihr sagen:
„Ihre Vergesslichkeit hat mit ihrem Stress zu tun, der seit ihrem neuen Chef aufgetaucht ist. Für die neuen Anforderungen ihres Chefs haben sie keine Lösung parat. Deshalb hat ihr Gehirn auf Dauerbelastung geschaltet, als wären sie in einer lebensbedrohlichen Situation. Dieser Stress nun trägt dazu bei, dass ihr Kurzzeitgedächtnis nicht mehr gut funktioniert und sie vieles vergessen. Die Stresshormone beeinträchtigen das Kurzzeitgedächtnis. Wenn sie weniger Stress haben werden, wird sich ihr Kurzzeitgedächtnis wieder normalisieren.“
Wir sind es gewohnt, unser Verhalten zu bewerten, d.h. auch es abzuwerten. Und wir halten, wie Frau in diesem Fall ihre Vergesslichkeit, für ein schlimmes Symptom. Wir bewerten die Vergesslichkeit also als krankhaft. Die Angst vor Demenz keimt auf.
Vergesslichkeit und unsere Gruselfantasien
Es entsteht das, was wir Gruselfantasien nennen: Unser Gehirn entwickelt Ideen davon, was an dem Unerklärlichen schrecklich sein könnte. Diese Ideen können sich innerhalb kürzester Zeit steigern, so dass wir am Ende wirklich denken, wie Frau P., mit 45 Jahren schon dement zu sein.
Ich habe lediglich versucht, den Vorgang zu verstehen und als etwas Normales hinzustellen. Die obige Erklärung ist physiologisch richtig. Diagnostisch müssen wir also gar nicht die Vergesslichkeit angehen, sondern die Stressbelastung und mit Frau P. daran arbeiten, dass sie zum einen ihren akuten Stress mit Hilfe diverser Techniken senken kann und dann mit ihr für die aktuelle Situation Alternativen entwickeln. Der höhe Stresspegel verhindert nämlich auch, dass wir noch klar denken können: Das Denken ist quasi besetzt von der fixen Idee Demenz.
Die aktuelle Situation miteinbeziehen
Ich habe mit meiner Erklärung versucht, den Vorgang des Vergessens in Bezug auf die Situation von Frau P. als normal und gut nachvollziehbar darzustellen. Das bringt erst einmal Entlastung und wir konnten uns den eigentlich wichtigen Themen zuwenden. Tatsächlich war es Frau P. möglich, ihren akuten Stress etwas zu verringern und wir konnten auch einen veränderten Umgang mit dem neuen Chef erarbeiten. Hinter all diesen Themen lauerten dann auch noch lebensgeschichtlich entstanden Belastungen, die in erster Linie mit erlebter Entwertung im Elternhaus, insbesondere durch den Vater, zusammenhingen. Damit sind wir beim Thema hinter dem Thema gelandet. Wenn wir da angekommen sind und in Bezug auf die alte Erfahrung Entlastung etabliert werden konnte, werden meistens auch die aktuellen Themen bzw. Belastungen kleiner.
Manche dieser alten Belastungen können allerdings so ausgeprägt sein, dass sie immer wiederkehren, also ständig und viel Aufmerksamkeit brauchen, Aufmerksamkeit fordern. Ich komme immer mehr dazu, dass wir nicht alle Wunden heilen können, auch wenn das schön wäre. Wir können sie aber lindern. Allerdings braucht das dann dauerhaft Aufmerksamkeit von uns und die dauerhafte, immer wiederkehrende Bestätigung, dass die Entwertung von damals vorbei ist.
Der beziehungsorientierte Ansatz „ROMPC“
Im beziehungsorientierten Ansatz von ROMPC nennen wir die obige Intervention „Normalisierung“ nach John Erskine. Das ist Teil des beziehungsorientierten Ansatzes, unseren Klienten Erklärungen anzubieten, die das Symptom verständlich machen. Systemisch gesehen sorgen wir erst dafür, dass das Vergessen zu einem Symptom wird, indem wir dem eine negative Bewertung anheften. Das hat auch die Bedeutung, dass das weg muss. Und das wiederum entspricht der alten Erfahrung, nicht richtig zu sein bzw. mit dem eigenen Sosein und/oder Verhalten abgelehnt worden zu sein.
Anstatt das Symptom also „weg zu machen“, macht es Sinn, Blockaden zu lösen und so eine „Neuinterpretation“ vorzunehmen – dann wird es leichter und wir lernen, mit dem, was sich uns bisher negativ gezeigt hat, umzugehen.