Werde am „Du“ zum „Ich“


Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis Teil 3

Präsenz in der Beziehung mit dem Gegenüber

Während wir die letzten beiden Male uns die Basisqualität Normalisierung angeschaut haben, möchte ich mich heute der Präsenz widmen. Diese geht eigentlich der Normalisierung voraus; denn ohne meine Präsenz bekomme ich nicht wirklich mit, was du, also mein Gegenüber, denkst, fühlst und erlebst oder dies in der Vergangenheit getan hast.

Präsenz heißt: Ich stelle mich als du zur Verfügung und ich bin da, bin präsent und mache nicht einfach, lege nicht einfach los, handle nicht, sondern bin da für dich, bin dir ein lebendiges Gegenüber.

Zurückstellen der eigenen Belange und Befindlichkeiten

Das klingt so leicht, erfordert aber einiges an Übung, um das glaubhaft tun zu können. Denn es erfordert, dass ich meine eigenen Belange zurückstelle, ohne dass es künstlich wird. Eigentlich ist das die Basisqualität, die schon Freud für die Psychoanalyse formuliert hat: Ich stelle meinem Gegenüber meine Präsenz zur Verfügung. Freud ging so weit, dass er nicht wollte, dass seine Patienten seine eigenen Regungen mitbekommen sollten, der Analytiker sollte nur Ohr sein und nur für seine Patienten da sein während der Sitzung.

Ungeteilte Aufmerksamkeit ist im Alltag selten

Das erfordert von mir, dass ich in der Lage sein muss, meinem Gegenüber diese Präsenz zu zeigen. Während Freud noch durch das Setting dafür sorgte, für die Patienten nicht sichtbar zu sein, zeigen wir heute unseren Patienten oder Klienten von Angesicht zu Angesicht, dass wir aufmerksam da sind. Denn diese ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen wir im Alltag so selten. Wenn wir uns in Gesprächsrunden im Alltag befinden, geben wir abwechselnd unsere Meinung kund, sofern wir über ein Thema diskutieren. Oder unser Gesprächspartner löst in uns einen neuen Gedanken aus, einen Einfall, den wir dann gleich zum Besten geben und schon haben wir damit einen Themenwechsel eingeläutet.

Hier geht es nur um dich!

In der therapeutischen oder beraterischen Kommunikation signalisieren wir: Hier geht es nur um dich, nicht um mich. Ich höre dir erst einmal nur zu. Ich will wirklich verstehen, was du mir sagen möchtest. Insofern stelle ich dir vielleicht Fragen, um dich besser verstehen zu können. Es geht nicht um meine Meinung, sondern nur um das,

  • was du erlebst oder erlebt hast,
  • was du denkst oder gedacht hast und
  • was du fühlst oder gefühlt hast.

Das will ich wissen!

Die innere Haltung

Wie vermittelt sich das? In erster Linie durch meine innere Haltung. Diese wird dann nach außen auch spürbar, ohne dass ich die auch nur einmal benennen muss. Manchmal sagen Klienten: „Bisher ist es nur um mich gegangen. Ich weiß gar nicht, wer sie eigentlich sind.“ Eine Antwort könnte sein: „Ja, so ist es. Hier geht es um Sie, nicht um mich. Da ist es nicht wichtig, wer ich als Privatperson bin.“

Richard G. Erskine schreibt: “Presence occurs when the therapist decenters from his or her own needs, feelings, fantasies, or hopes and centers instead on the client’s process. It involves being fully mindful of the client: watching every little movement and gesture; listening to every word, sound and even the silence.”

Sicherheit im Prozess

Ich könnte also schlussfolgern: Wenn ich Therapeut oder Berater bin, dann gibt es mich eigentlich nicht. Das ist nicht so und sollte so auch nicht sein, denn dann würden wir nicht mehr als lebendiges Gegenüber erlebt. Erskine schreibt weiter: „Presence involves both bringing the richness of the therapist’s experience to the therapeutic relationship and de-centering from the self of the therapist and centering on the client’s process. (…) Presence describes the therapist’s provision of a safe interpersonal connection. The dependable, attuned presence of the therapist counters the client’s insecure attachment and the discounting his or her self-worth.” Die ganze Erfahrung des Therapeuten oder Beraters, sein ganzes Wissen sind im Hintergrund da. Sie sind spürbar, geben Halt und Sicherheit, ohne dass ein Wort gesprochen sein muss.

Beziehungsorientierte Therapie und Beratung

Erskine folgert: „The quality of presence creates a psychotherapy that is unique with each client, attuned to and involved with the client’s emerging relational-needs. Through the therapist’s full presence, the transformative potential of an integrative, relationship-oriented psychotherapy is possible.” (Richard G. Erskine: https://www.integrativetherapy.com/en/articles.php?id=73 )

Ich könnte aber auch sagen: „Sie haben mich jetzt schon 20 Sitzungen erlebt. Was haben sie dabei von mir mitbekommen?“ Ich könnte diese Frage stellen, weil schon eine ganze Reihe von Sitzungen stattgefunden haben und es natürlich ist, wenn mein Gegenüber aus meiner Körperhaltung, meiner Stimme, meiner Intonation, meiner Gestik und Mimik schon so viel von mir mitbekommen hat. Das kann und will ich gar nicht kontrollieren.

Am „DU“ zum „ICH“ werden

Im Gegensatz zu Freud sagen wir heute, unsere Klienten dürfen das alles mitkriegen von uns. Dadurch werden wir zu einem lebendigen Gegenüber, zu einem „du“, an dem das „ich“ zum Ich werden kann, wie Martin Buber gesagt hat. Wenn ich die oben genannte Frage stelle, muss ich natürlich auch bereit sein, die Antwort zu hören und anzunehmen. Vielleicht erfahre ich so etwas Bereicherndes über mich im Kontakt mit meinem Gegenüber. Vielleicht erfahre ich eine andere Facette meines Klienten/meiner Klientin.


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