Die Angst vor der Freiheit


Wir leben ja inzwischen schon über 15 Monate mit diesem Virus und in seinen diversen Varianten und es werden sicher noch einige hinzukommen. Viele sind geimpft (vollständig oder nicht), andere wollen sich nicht impfen lassen, wieder andere warten auf ihre Impfung. Das Virus spielt von den Infektionszahlen her keine so große Rolle wie noch vor 2 Monaten, die Menschen sind aber dennoch weiter verunsichert.

Einige meinen, sie müssten alles nachholen, was sie in den 15 Monaten versäumt haben, feiern Party ohne Ende und wollen sich davon auch nicht abhalten lassen, auch nicht durch die Polizei, was es zu teils heftigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Rettungskräften geführt hat, wie gerade in Augsburg geschehen. Wieder andere können und wollen die bisherige Vorsicht im Umgang mit anderen Menschen nicht aufgeben. Ihnen ist körperliche Berührung unangenehm bis seltsam oder ungewohnt, vielleicht auch entwöhnt.

Vorsicht: Ist Nähe gefährlich?

Allen gemeinsam ist die Verunsicherung im Umgang mit anderen Menschen und mit sich selbst. Das betrifft im übrigen auch Kinder, die ja ebenfalls ihr spontanes Verhalten zurückhalten mussten. Auf der einen Seite gibt es bei den Erwachsenen und Jugendlichen eine überschießende Feierlaune, die schnell in Aggression umschlagen kann, das Größenselbst, das so lange eingesperrt war und sich so endlich mal Luft verschaffen kann. Auf der anderen Seite die lange gezüchtete Angst vor anderen, weil die ja ansteckend und damit gefährlich sein könnten.

Diese 15 Monate körperlicher Distanz haben bei einem großen Teil der Menschen dazu geführt, dass sich ihnen die Haare aufstellen, wenn ihnen körperlich nah kommen. Unser Unbewusstes hat das offenbar schon als drohende Gefahr in sich aufgenommen, unsere Amygdala schlägt Alarm: „Vorsicht! Nähe ist gefährlich!“ Auch wenn diese Menschen sich auf die Berührung, sei es ein Handschlag oder gar eine Umarmung, einlassen, führt es zur automatisierten Gefahrenreaktion.

Haben wir unser Kontaktverhalten schon verändert?

Diese Zeit des Lockdowns und der Isolierung könnte man auch als ein Großexperiment in Verhaltensanpassung betrachten: Wie verändern sich die Menschen, wenn sie über längere Zeit ihre sozialen Kontakte nur noch aus der Ferne pflegen können? Sozialpsychologen hätten sich das ausdenken können – ein solches Experiment wäre aber aus ethischen Gründen nie umsetzbar gewesen. Ich glaube auch nicht an Verschwörungstheorien, denen solch eine Annahme gerade Recht kommen könnte. Bisher habe ich davon aber nicht gelesen. Dennoch sollten wir die Auswirkungen der nun 15 Monate geübten Verhaltensänderung weiter beobachten.

Es ist inzwischen selbstverständlich, Menschen nicht mehr die Hand zu geben bei Begrüßung oder Abschied. Halten wir inzwischen gewohnheitsmäßig einen räumlichen Abstand zu anderen Menschen von 1,5 bis 2 Metern ein? Könnte sich dadurch die Intimgrenze, die durchschnittlich in der Vergangenheit bei 80 cm lag, verschieben auf 1,5 Meter? Ist die Umarmung nur noch den allernächsten Menschen vorbehalten, weil, wie gesagt, der andere ansteckend und damit gefährlich sein könnte? Inwieweit hat diese Grundannahme sich schon in automatisiertes Verhalten im Kontakt mit Menschen umgesetzt?

Wissenschaftlich gehen wir immer noch davon aus, dass wir

  • eigentlich Herdenwesen sind und als solche auf die anderen angewiesen,
  • Körperkontakt brauchen, um uns wohlzufühlen,
  • menschliche Nähe brauchen, wenn wir in Schwierigkeiten oder gar Krisen geraten,
  • auch unsere kognitive Intelligenz nur in dem Maße nutzen können, wie wir in einer guten Beziehung sind. (Hiervon gibt es Ausnahmen z.B. bei Störungen aus dem Autismus-Spektrum. Diese Menschen haben sich in der Pandemie, also mit den Beschränkungen zum großen Teil wohler gefühlt.)
Zwei Seiten einer Depression

Ich glaube nicht, dass diese Aspekte sozialpsychologisch bislang untersucht wurden. In ein paar Jahren werden wir wohl über solche Studien verfügen. Dennoch begegnen uns diese Phänomene bereits jetzt in der Psychotherapie und Beratung. Unsere Klienten bringen ihre Unsicherheit zum Thema menschliche Nähe ein: die einen fühlen sich unwohl, wenn andere ihnen räumlich näher kommen. Andere berichten, dass sie die Isolierung kaum noch aushalten und endlich raus und weg wollen.

Wir können das als zwei Seiten einer Depression begreifen: die erste Gruppe hat sich so auf den Rückzug eingerichtet, dass Annäherung gefährlich erscheint: Sie ziehen sich noch mehr zurück, als sie das ohnehin schon getan haben. Sie verstärken so ihre Depression und Antriebslosigkeit. Die zweite Gruppe setzt der Depression Aktionismus entgegen, quasi als Antidepressivum: nur nicht mehr diesen Rückzug und das Alleinsein spüren und alle depressiven Tendenzen mit Feierlaune bis hin zur Aggression überdecken.

Die Widersprüche der heutigen Welt

Manche der o.g. aggressiven Äußerungen lassen sich durchaus auch als verständliche Reaktionen auf Restriktionen verstehen, die bei einer so niedrigen Inzidenz wie im Moment nicht mehr verständlich und vermittelbar sind. Sie werden durch Widersprüche in den momentanen Regelungen unterstützt: Fußballspiele der EM dürfen in England vor großem Publikum stattfinden trotz hoher Inzidenzen dort und wir dürfen nicht einmal auf der Straße unserem Bedürfnis nach Feiern nachgehen. Staatliche Restriktionen, die nicht mehr verständlich sind, rufen besonders nach so langer Zeit vermehrte Aggressionen hervor.

Was können wir tun?

In Psychotherapie, Beratung und Coaching geht es unserer Erfahrung nach um das Ernstnehmen der Ängste und darum, in Bezug auf diese Ängste mehr Entlastung zu bewirken. Das kann durch Zuhören und Verstehen geschehen. Verständnis und das Gefühl des Verstandenwerdens entsteht dann am ehesten, wenn unser Gegenüber uns an seiner emotionalen Resonanz teilnehmen lässt. D.h. wir sollten unseren Klienten genau diese emotionale Resonanz anbieten, die bei jedem Menschen ein Stück anders ausfallen muss, weil jeder anders ist und andere Resonanzen in uns auslöst. Diese offen und mitfühlend anzubieten, ist im tiefsten menschlichen Sinne heilsam. Wenn wir dann noch Entkoppelungstechniken mit hinzuziehen, können wir zur Stabilisierung beitragen, die Ängste verringern und damit sowohl depressivem Rückzug als auch überschießender Aggression vorbeugen.

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