Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis – Fortsetzung Teil 4
Heute beschäftigen wir uns mit dem Einschwingen in der therapeutischen und Beratungsarbeit, dem dritten Baustein der Beziehungsqualitäten in dieser Arbeit. Bisher haben wir uns mit der Normalisierung und der Präsenz beschäftigt. (s. hierzu folgende Beiträge: https://netzwerkstressundtrauma.com/beziehungsorientierung-und-normalisierung/ und https://netzwerkstressundtrauma.com/werde-am-du-zum-ich/ )
Grundsätzlich stehen wir vor dem Problem, dass man die einzelnen Qualitäten nicht voneinander trennen kann. In der täglichen Arbeit mischen sie sich und bedingen einander. Dennoch will ich probieren, die einzelnen Qualitäten getrennt voneinander zu betrachten und am Ende der Serie deren Zusammenhang und Vernetzung beleuchten.
„Einschwingen“ passiert im ersten Moment
Das Einschwingen passiert vom ersten Moment der Begegnung an. Wie ist die Begrüßung, wie der Kontakt dabei? Wie ist der Blick, wie sind Mimik und Gestik, die Sprechweise und noch weitere Parameter[i], die alle insgesamt einen Eindruck hinterlassen. Sie alle geben uns Hinweise, die im Therapeuten oder Coach einen Eindruck hinterlassen, der über Empathie hinausgeht.
Erskine und Trautmann beschreiben das folgendermaßen:
„More than just understanding or vicarious introspection, attunement is a kinesthetic and emotional sensing of the other — knowing his or her rhythm, affect, and experience by metaphorically being in his or her skin, thus going beyond empathy to provide a reciprocal affect and/or resonating response.”
Die Gefühle des Gegenübers von den eigenen unterscheiden
Es geht also nicht nur um einfühlende Introspektion, sondern mehr noch um das Fühlen der Gefühle des Gegenübers, das körperliche Sein, den körperlichen Rhythmus, etc., damit wir ein Stück weit das fühlen können, was der andere/die andere fühlt. Gleichzeitig ist es für den Therapeuten oder Coach wichtig zu wissen, dass diese Gefühle, die er oder sie spürt, nicht die eigenen sind, sondern die des Gegenübers. D.h. er oder sie muss auch rasch wechseln können zwischen dem Einfühlen und sich selbst sein. Er oder sie muss dazu wissen: Was gehört zu mir und was zu der anderen Person.
Neue Sichtweise zur Gegenübertragung nach Freud
Freud hat schon in seinem Übertragungs-Konzept Ansätze davon erkannt. Nur glaubte er, dass diese Aspekte, wenn sie einer Gegenübertragung entspringen, eliminiert werden müssten. Erst später wurde erkannt, dass Gegenübertragungsgefühle beim Behandler Ausdruck davon sind, dass er oder sie an den erlebten Gefühlen der Klienten teilnehmen, also an der erlebten Welt der Klienten teilhaben und so verstehen von innen heraus, um welche Gefühle, Körperhaltungen und Körperschwingungen es geht und zu welcher lebensgeschichtlichen Szene diese Gefühle und Empfindungen gehören. Übertragung ist in dieser Sichtweise ein szenisches Angebot des Klienten, in dem er selbst eine bestimmte Rolle hat und in dem er dem Therapeuten eine komplementäre Rolle zuweist.
Es handelt sich um „gewissermaßen Einladungen an den Therapeuten, den vakanten Platz des Rollenangebots zu besetzen“ (Klüwer. 1983, s. 833). Die Rollenübernahme wird in erster Linie nonverbal signalisiert durch die Übernahme bestimmter Haltungen. (s.a. Sandler, 1976, S. 300 ff., Klüwer, 1983, S. 836). Kohut, der sich auch mit der therapeutischen Beziehung befasst hat, formuliert ähnlich, dass in der Therapie die Spiegelung der kindlichen Bedürfnisse und Empfindungen stattfinden müsse, weil sie sich dann geliebt fühlen für die, die sie sind, und nicht für die, die sie sein sollten. (Kohut, 1989)
Wirkliche Beziehung in Therapie und Coaching erleben
Es ist schon deutlich, dass die Anforderungen an Therapeut oder Coach sehr hoch sind, um das leisten zu können, für die Klienten bedeutet das erst einmal, sich verstanden zu fühlen in einem tieferen Sinn und auch eingeladen in eine therapeutische Beziehung, die heilsame Wirkung entfalten könnte. Für Therapeut oder Coach geht das mit einer tiefen Befriedigung einher; denn es fühlt sich befriedigend an, wirklich in Beziehung zu sein mit dem Gegenüber, auch wenn es nur vorübergehend ist.
“In the presence of an attuned, involved [ii], and self-aware therapist who can respond to those relational needs, the client will feel a stronger, clearer sense of self and self-in-relationship. Psychological well-being is enhanced through full interpersonal and intrapsychic contact.”
Authentisch sein durch verbale und nonverbale Kommunikation
Das Einfühlen in diesem Sinne wird nicht nur verbal transportiert, sondern das nonverbale Verhalten von Therapeut oder Coach drückt in noch stärkerem Maße aus, dass wir ganz bei unserem Gegenüber sind. Mindestens ist es erforderlich, dass Verbales und Nonverbales widerspruchsfrei sind. Ansonsten wären wir nicht glaubhaft. Da wir unser nonverbales Verhalten weniger gut kontrollieren können, ist es notwendig, mit unserem eigenen inneren Prozess zu gehen, diesen wahrzunehmen und in einen kongruenten Ausdruck von uns selbst hineinfließen zu lassen. Das klingt jetzt komplizierter, als es ist: Ich fühle die Gefühle, die durch mein Gegenüber in mir entstehen und lasse in mir daraus einen authentischen Ausdruck entstehen. Das funktioniert darüber, dass wir einen für uns stimmigen Ausdruck finden, auch wenn das Ausgangsmaterial nicht unser eigenes ist.
Ein Fall aus der Praxis zum einfühlenden Verstehen von Klienten
Wenn wir mal ein Stück Abstand nehmen von der theoretischen Beschreibung, wird es vermutlich einfacher.
Eine Frau, die sich bei mir in therapeutischer Behandlung befand, wurde von ihrer Mutter emotional allein gelassen. Sie war zwar anwesend, hat ihre Tochter auch versorgt, konnte sich aber nicht mit ihr beschäftigen, ihre Bedürfnisse nicht gut erkennen und entsprechend auch nicht angemessen beantworten. Die Mutter fühlte sich selbst allein, vom Vater der Klientin unter der Woche verlassen wegen seiner Arbeit und am Wochenende traf er sich mit Freunden. Er war wohl auch in der Familie am Wochenende, aber auch zu diesen Zeiten häufig abwesend. Die Verlassenheit der Mutter hatte sich so auf ihre Beziehung zu ihrer Tochter, meiner Klientin übertragen.
Im Kontakt war es für mich spürbar, dass sie sehr unsicher reagierte, wenn ich durch irgendetwas abgelenkt wurde, ein lautes Geräusch von außen z.B. Indem ich diese Unsicherheit spürte und zu verstehen suchte mit der Frage: „Fühlen sie sich gerade unsicher?“ fühlte sie sich erkannt und konnte darüber sprechen, was in meinem Verhalten sie verunsichert hatte. Auf die nächste Frage, wo sie ds schon einmal erlebt habe, kam sie auf die Beziehung zur Mutter zu sprechen. Das momentane Erleben in der Sitzung ließ sich also zurückverfolgen auf die Zeit der frühen Kindheit.
Mein einfühlendes Verstehen, dass sie sich da sehr einsam gefühlt haben müsse, hat sie unmittelbar mit Tränen beantwortet. Da wir im ROMPC Entkoppelungstechniken für solche inneren Blockaden einsetzen und einsetzen können, war in dieser Sitzung eine tiefgehende Entlastung möglich.
„Atunement“ und mögliche Fragen im Coaching
Im Coaching arbeiten wir weniger in Richtung regressiver Gefühle wie in dem obigen Beispiel, aber das einfühlende Verstehen brauchen wir da genauso. D.h. statt auf die Frage nach der Lebensgeschichte, kann ich genauso Fragen in Richtung des gegenwärtigen Lebens stellen: „Wo in ihrem Leben ereignen sich ähnliche Vorkommnisse mit ihrer plötzlich auftretenden Unsicherheit? Wie reagiert ihre Umgebung darauf?“ etc.
Attunement im Sinne von Einfühlung findet auf verschiedenen Ebenen statt: Der Rhythmik des Körpers, der Körperhaltung, der Emotionen und Affekte und der Entwicklung,
d.h.
- In welchen Situationen tauchen diese Phänomene auf?
- Wann wurde dieses Verhalten entwickelt und wozu?
- Welche Beziehungsbedürfnisse brauchen besondere Zuwendung?
- Welche Emotionen tauchen auf und/oder werden zu verbergen gesucht?
Es gibt natürliche noch weitere Fragen in diesem Zusammenhang. Mit den obigen und weiteren ähnlichen Fragen können wir uns das Einfühlen erleichtern oder überhaupt erst möglich machen, sofern wir wirklich wissen wollen, wer unser Klient / unsere Klientin ist, was sie oder ihn ausmacht. Diese Neugier brauchen wir und die Bereitschaft, an der Welte unseres Klienten, unserer Klientin teilzuhaben.
Erskine und Trautmann sagen dazu: “With sensitive questioning, our experience is that clients will reveal previously repressed fantasies and out-of-awareness intrapsychic dynamics. This provides both the client and the therapist with an ever-increasing understanding of who the client is, the experiences he or she has had, and when and how he or she interrupts contact.”
Literatur:
Ekman, Paul (2004), Gefühle lesen – Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, , München 2004 (Spektrum Verlag) Erskine, Richard G. / Trautmann, Rebecca L. (1996), Methods of an Integrative Psychotherapy, https://www.integrativetherapy.com/en/articles.php?id=63
Freud, Sigmund (1912), Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, in Freud Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt/M. 1975, S. 169 ff.
Kohut, Heinz (1989), Wie heilt die Psychoanalyse? Frankfurt/M., 1989 (Suhrkamp)
Klüwer, Rolf (1983), Agieren und Mitagieren, in: Psyche 37/1983, S. 828 ff.
Sandler, Joseph (1976), Gegenübertragung und Bereitschaft zur Rollenübernahme, in: Psyche 30/1976, S. 297 ff.
[i] Im Bereich nonverbaler Kommunikation werden die einzelnen Kommunikationskanäle getrennt voneinander betrachtet, auch wenn sie nur insgesamt gesehen einen Eindruck bei uns hinterlassen. Beispielsweise achten wir sehr darauf, ob es Widersprüche zwischen den einzelnen Kanälen gibt. Die üblicherweise untersuchten Kanäle sind: Mimik, Gestik, Körperhaltung und -bewegung, Blick, Ausstrahlung, Stimmfärbung, Intonation, psychosomatische Reaktionen wie Schwitzen, Hautfärbung, etc. S. hierzu z.B. Paul Ekman (2004) Ekman ist ein Pionier auf diesem Forschungsgebiet/ s. hierzu auch meinen Beitrag Angst vor der Freiheit, in dem ich auf die Wirksamkeit des Handgebens bei der Begrüßung eingegangen bin sowie das Fehlen der Gesichtsmimik in der Corona-Pandemie.
[ii] Zu „involvement“ wird es noch einen weiteren Artikel geben.